Lebenslang für Messerangriff in Brokstedt gefordert Von André Klohn, dpa

Im Mordprozess um den Messerangriff in einem Zug in Brokstedt droht
dem Angeklagten lebenslange Haft. Die Staatsanwaltschaft forderte die
Feststellung der besonderen Schwere der Schuld.

Itzehoe (dpa/lno) - Nach rund zehn Monaten steht der Prozess um den
tödlichen Messerangriff in einem Regionalzug im
schleswig-holsteinischen Brokstedt vor dem Abschluss. Für zweifachen
Mord und vierfachen versuchten Mord in Tateinheit mit gefährlicher
oder schwerer Körperverletzung forderte die Staatsanwaltschaft am
Donnerstag eine lebenslange Strafe unter Feststellung der besonderen
Schwere der Schuld. «Der Angeklagte hat auf brutale Weise zwei
Menschenleben vernichtet», sagte Staatsanwältin Janina Seyfert.

Die Staatsanwältin sprach von einer «klassischen Pendlerfahrt im
öffentlichen Nahverkehr» an jedem 25. Januar 2023. «Der Angeklagte
war frustriert.» Er sei nach einer Haftentlassung wenige Tage zuvor
in Hamburg obdachlos gewesen, ein erfolgloser Termin bei der
Ausländerbehörde in Kiel habe seine ungelöste Situation verschärft.


Ibrahim A. steht seit Juli 2023 vor Gericht, weil er am 25. Januar
2023 im Regionalzug von Kiel nach Hamburg ein Messer gezogen und auf
Fahrgäste eingestochen hat. Der Angeklagte streitet die Taten nicht
ab. Zwei junge Menschen im Alter von 17 und 19 Jahren starben, vier
Fahrgäste wurden schwer verletzt.

Nach Aussagen der Zeugen stehe fest, «dass der Angeklagte seine
Angriffsserie völlig unvermittelt gestartet hat», sagte die
Staatsanwältin. Nach dem ersten Angriff seien die Passagiere im Zug
geflüchtet. Der Angeklagte habe sich durch den Zug bewegt, um weitere
Opfer zu suchen. Diese litten noch heute unter den Folgen. Sie
zitierte Aussagen der Zeugen: «Ich bin vorsichtiger geworden», «ich
fahre bis heute nicht mit der Bahn».  

In der vergangenen Woche hatte der psychiatrische Gutachter
dargelegt, dass er den Angeklagten für schuldfähig hält. Zwar sehe er

psychotische Symptome, aber keine Psychose. Bei dem Palästinenser
liege eine schwere posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) vor. Die
Bedingungen der Paragrafen 20 und 21 des Strafgesetzbuches für
Schuldunfähigkeit oder verminderte Schuldfähigkeit seien nicht
erfüllt. Im Laufe des Prozesses hatten dagegen mehrere Psychiater,
die mit Ibrahim A. in der Untersuchungshaft vor und nach der Tat
gesprochen hatten, von ihrer Verdachtsdiagnose einer Psychose beim
Angeklagten berichtet.

Die Kammer gehe davon aus, dass der Angeklagte zur Tatzeit unter
einer posttraumatischen Belastungsstörung litt, nicht aber unter
einer Psychose, sagte der Vorsitzende Richter Johann Lohmann. Einen
Antrag der Verteidigung auf Einholung eines zweiten psychiatrischen
Gutachtens lehnte das Gericht folglich ab. «Die Sachkunde des
Gutachtens von Prof. Dr. Deister steht offenkundig außer Zweifel»,
sagte Lohmann. Zuvor hatte Verteidiger Björn Seelbach erklärt, bei
seinem Mandanten trete ab und zu unter Stress eine Psychose auf. Das
sei für die Frage der Schuldfähigkeit von entscheidender Bedeutung.

Zudem gab die Kammer vor Abschluss der Beweisaufnahme einen
rechtlichen Hinweis. Im Fall des 19 Jahren alten getöteten
Jugendlichen in dem Zug komme auch Totschlag in Betracht, sagte
Lohmann. Der Angriff auf ihn sei erst erfolgt, nachdem dieser sich im
Zug schützend vor seine bei dem Angriff getötete 17 Jahre alte
Freundin gestellt habe. Möglicherweise komme in seinem Fall das
Mordmerkmal Heimtücke nicht in Betracht. Das Gericht wolle
gegebenenfalls prüfen, ob dafür das Mordmerkmal Mordlust erfüllt
sein.

Die Verteidigung geht von einer psychischen Erkrankung des
Angeklagten aus und forderte bereits während der Beweisaufnahme eine
Verlegung des Angeklagten von der Untersuchungshaft in eine
Psychiatrie. Verteidiger Björn Seelbach forderte die Unterbringung in
einer psychiatrischen Einrichtung. Aufgrund seiner psychotischen
Störungen sei sein Mandat nicht schuldfähig. Für den Fall, dass das
Gericht die Frage der Schuldfähigkeit anders bewerte, beantragte der
Verteidiger eine Gesamtstrafe wegen zweifachen Totschlags sowie
vierfacher gefährlicher oder schwerer Körperverletzung zu zehn
Jahren. Sein Mandant habe sich angegriffen gefühlt. Es habe sich
nicht um Taten aus Frust gehandelt. 

Die Vertreter der Nebenkläger folgten im Wesentlichen dem Plädoyer
der Staatsanwalt. Sie wiesen auf die Folgen hin, unter denen die
Opfer und auch das Umfeld noch litten. Jemand, der sich kurz vor der
Tat ein Messer mit 20 Zentimeter langer Klinge besorge, der handele
nicht psychotisch, sagte einer der Anwälte.

Einlassung des Angeklagten

Kurz vor Ende der Beweisaufnahme ließ der Angeklagte durch seinen
Anwalt eine Erklärung verlesen: «Ich lehne das Töten ab. Mich
erschrecken schon immer die toten Menschen, die ich sehen musste. Ich
finde das eklig anzusehen.»

Zu Beginn des Prozesses hatte der Angeklagte in einer wirren Rede
abgestritten, der Täter zu sein. Im Verlauf des Prozesses ließ er
seinen Verteidiger jedoch eine Erklärung verlesen, dass ihm die Tat
leidtue. Er sei provoziert worden und habe die Kontrolle verloren. In
der Untersuchungshaft fiel der Mann nach Zeugenaussagen durch
Renitenz und Gewalt auf. Er legte sogar Feuer in seiner Zelle und
wurde deswegen verlegt.

Knapp 100 Zeugen gehört

Seit Juli hörte die Kammer in dem außergewöhnlich umfangreichen
Strafverfahren an 38 Verhandlungstagen 97 Zeugen. Deren Schilderungen
ähnelten sich teilweise stark. Fahrgäste, Polizisten
und Rettungskräfte berichteten dem Gericht, wie sie das Grauen im
Regionalexpress und auf dem Bahnhof erlebten.

Der Fall Ibrahim A. beschäftigte auch mehrere Landesparlamente. Bei
der Aufarbeitung traten Mängel beim Austausch von wichtigen
Informationen zwischen Behörden in Hamburg, Schleswig-Holstein und
Nordrhein-Westfalen zutage, wo der Angeklagte jeweils lebte und auch
Straftaten beging.

Erst wenige Tage vor der tödlichen Messerattacke im Regionalzug war
er in Hamburg aus einer Untersuchungshaft wegen einer anderen
Straftat entlassen worden. Während dieser Zeit hatte er sich wegen
psychischer Auffälligkeiten 16 Mal mit einem Psychiater getroffen.
Wenige Monate vor seiner Entlassung soll sich der mutmaßliche Mörder
mit dem Attentäter vom Berliner Breitscheidplatz, Anis Amri,
verglichen haben.

Das Urteil in dem Prozess soll am 15. Mai (11.00 Uhr) fallen.