Liebe mit Hindernissen: Warum Deutschland auf Indiens Fachkräfte setzt Von Anne-Sophie Galli und Michael Donhauser, dpa

Jede sechste Person der Welt kommt aus Indien. Und die
Bundesregierung will, dass deutlich mehr von ihnen in Deutschland
arbeiten. Viele Inderinnen und Inder wollen das auch. Woran hapert
es?

Neu-Delhi/Berlin (dpa) - Wie ein Headhunter hat Kanzler Olaf Scholz
(SPD) zuletzt in Indien für Deutschland geworben. In einem Café im
südlichen Bengaluru tauschte er sich mit einem Hochbauingenieur, zwei
Maurern und einer Krankenschwester aus, die bald in die
Bundesrepublik auswandern wollen - und Scholz versprach bürokratische
Hürden für indische Spezialistinnen und Spezialisten abzubauen. Die
Bundesregierung sieht in dem Subkontinent ein großes Potenzial, um
den Fachkräftemangel zu bekämpfen. Immerhin ist Indien die
bevölkerungsreichste Nation der Welt mit 1,4 Milliarden
Einwohnerinnen und Einwohnern - und ein Auswanderungsland par
excellence mit Hunderttausenden Studierenden und Fachkräften, die
jedes Jahr ihr Glück im Ausland suchen. 

Ganz neu ist das deutsche Interesse an indischen Arbeitskräften zwar
nicht - früher jedoch tat man sich schwerer damit. Bereits
Scholz-Vor-Vorgänger Gerhard Schröder wollte mit einer
Green-Card-Initiative vor allem Techniker ins Land holen. Aus der CDU
gab es kräftigen Gegenwind, später reduziert auf den Slogan: «Kinder

statt Inder». Richtig in Gang kam die Migration indischer Fachkräfte
nicht.

Inzwischen gibt es ein Fachkräfteeinwanderungsgesetz sowie ein
Mobilitätsabkommen mit Indien, das die Zuwanderung vereinfachen soll.
Und dieses praktisch einhellige deutsche Interesse stößt auf
Gegenliebe. Die Zahl sozialversicherungspflichtig Beschäftigter aus
dem Land hat sich in den vergangenen drei Jahren fast verdoppelt -
auf 129 000. Verglichen mit Zuwanderungsländern wie der Türkei oder
Rumänien ist das noch immer wenig, aber die Zahl steigt rasant. Und
aus keinem anderen Land kommen heute mehr ausländische Studierende
als aus Indien.

Scholz wollte bei dem Fachkräftetreffen im Café wissen, warum sie
sich für die Bundesrepublik entscheiden. Die Krankenschwester Janeeta
Jacob, die dort war, sagt, sie habe ihm dies geantwortet: «In Indien
haben wir viel Stress und wenig Gehalt, aber in Deutschland haben wir
wenig Stress und viel Gehalt.» Zudem hofft die 32-Jährige auch für
ihre beiden Söhne auf eine bessere Work-Life-Balance in ihrer neuen
Heimat. Die langfristige Perspektive, sich nach einigen Jahren
dauerhaft niederlassen zu können, sei für indische Zuwanderinnen und
Zuwanderer beliebt, betont auch Fachkräfteexpertin Denise Eichhorn
von der Deutsch-Indischen Handelskammer in Mumbai. «Auch, dass
Ehepartner ohne Probleme einer Anstellung nachgehen können, macht
Deutschland attraktiver als traditionelle Migrationsländer von
Indien.»

Gleichwohl ist die Bundesrepublik bei Menschen aus der ehemaligen
britischen Kolonie bei Weitem nicht die beliebteste Destination. Viel
häufiger zieht es sie in Länder, in denen man mit Englisch gut
zurechtkommt. In den USA etwa leben Millionen von ihnen, darunter
Silicon-Valley-Chefs wie Sundar Pichai von Google sowie Satya Nadella
von Microsoft. Bei der Bundesagentur für Arbeit erklärt die
zuständige Vorständin Vanessa Ahuja: «Langwierige
Anerkennungsverfahren, die schleppende Digitalisierung und hohe
Sprachanforderungen machen Deutschland nicht immer zur ersten Wahl.»

Auch für Krankenschwester Janeeta Jacob sei ihr erstes halbes Jahr im
bayrischen Bad Heilbrunn nicht ganz einfach gewesen. «Ich habe etwas
Heimweh, weil ich meinen Mann und die Kinder vermisse», sagt sie. Sie
habe erst kürzlich einen Antrag stellen können, dass ihre Familie zu
ihr ziehen kann - nachdem sie eine Anerkennungsprüfung abgelegt und
ihr Mann ein Zertifikat über deutsche Sprachkenntnisse vorgelegt
habe. Außerdem habe sie die ersten sieben Monate in einem
Patientenzimmer in ihrer Klinik gelebt, weil sie keine bezahlbare
Wohnung gefunden habe, sagt sie. Dass die Suche nach einer Bleibe
schwieriger sei als die nach einem Job, hört auch Fachkräfteexpertin
Denise Eichhorn von der Deutsch-Indischen Handelskammer immer wieder.
Eine weitere Hürde sei das Geld, das Auswanderungswillige für ein
Leben in Deutschland brauchten, sagt sie: Nicht alle könnten sich den
Migrationsprozess und einen Sprachkurs leisten. Die, die schließlich
aber kämen, könnten mit Ausnahme der IT-Branche meist Deutsch.

Indische Zuwanderer haben vielerorts einen guten Ruf - und eine
hervorragende Ausbildung: 54 Prozent der 129 000
sozialversicherungspflichtig beschäftigten Inderinnen und Inder in
Deutschland arbeiten in Jobs, für die eine Expertenausbildung
notwendig ist, heißt es von der Bundesagentur für Arbeit. Unter allen
in Deutschland tätigen Menschen ist diese Quote nur etwa halb so
hoch. Das schlägt sich auch im Gehalt nieder: Der Median, also der
Wert, bei dem es genauso viele Menschen mit einem höheren wie mit
einem niedrigeren Einkommen liegt, für die Gruppe der indischen
Zuwanderinnen und Zuwanderer liegt bei monatlich 5227 Euro. Im
gesamtdeutschen Schnitt liegt der Median dagegen nur bei 3646 Euro. 

Aber warum wollen so viele gut ausgebildete Menschen Indien
verlassen? Immerhin ist das Land inzwischen die fünftgrößte
Wirtschaftsmacht, die viele Investoren anlockt, und mit dem robusten
Wachstum könnte der Subkontinent bald die deutsche Wirtschaft
überholen. Es gibt dabei einen Haken: Das Wachstum ist ungleichmäßig

verteilt und es fehlen Jobs - auch für Menschen mit guter Bildung.
Zudem beträgt das Pro-Kopf-Einkommen laut Weltbank gerade mal knapp
2000 Euro - im Jahr. Krankenschwester Janeeta Jacob sagt, sie fände
zwar auch in Indien leicht einen Job, habe zuletzt aber nur rund 250
Euro im Monat verdient. Und abgesehen von der Bürokratie gefalle es
ihr in ihrer Wahlheimat Deutschland sehr gut, sagt sie. Die Leute
seien meist freundlich.