Ärzte warnen vor Ruhestandswelle - Mehr Steuerung im Blick Von Sascha Meyer, dpa

Ein Netz mit Praxen und Kliniken ist überall wichtig. Doch
mancherorts fehlen schon Ärztinnen und Ärzte, und das spitzt sich
weiter zu. Sollen Patienten deshalb gezielter durchs System gelotst
werden?

Berlin (dpa) - Ärztepräsident Klaus Reinhardt hat vor wachsenden
Problemen für die Gesundheitsversorgung wegen knapper Fachkräfte
gewarnt. «Der Ärztemangel ist keine Prognose mehr, sondern in vielen
Regionen Deutschlands längst Realität», sagte der Chef der
Bundesärztekammer der Deutschen Presse-Agentur vor dem Deutschen
Ärztetag in Mainz. Rund 4800 Hausarztsitze seien unbesetzt, in den
Krankenhäusern sehe es beim Personalmangel ähnlich aus. Hinzu komme,
dass heute fast jeder vierte berufstätige Arzt 60 Jahre oder älter
sei. «Wir stehen also vor einer massiven Ruhestandswelle, die das
Problem weiter verschärfen wird.»

Reinhardt mahnte: «Wenn die Politik diese Entwicklungen nicht ernst
nimmt, steuern wir auf einen realen Versorgungsnotstand hin, mit
gravierenden Auswirkungen auf fast alle Gesellschaftsbereiche.» Denn
zugleich steige wegen der Alterung der Gesellschaft der
Behandlungsbedarf.

Ärztetag sucht Wege zu mehr Effizienz

Beim Ärztetag, der an diesem Dienstag mit Bundesgesundheitsminister
Karl Lauterbach (SPD) eröffnet wird, geht es daher auch um Wege, wie
die Kapazitäten effektiver genutzt werden können. Im Blick steht eine
stärkere Steuerung - also Patientinnen und Patienten gezielter durch
Behandlungen zu lotsen, um Überlastungen und unnötige
Mehrfachuntersuchungen zu vermeiden.

Lauterbach machte schon deutlich, dass es in vielen Bereichen auf dem
Land und in ärmeren Stadtteilen künftig nicht möglich sein werde,
einen Hausarzt zu finden. Um die Vor-Ort-Versorgung abzusichern,
sollen mit einem geplanten Gesetz bessere Arbeitsbedingungen kommen,
damit mehr junge Mediziner Hausärzte werden. So sollen für Hausärzte

unter anderem Obergrenzen der Vergütung (Budgets) wegfallen. 

Viele Hausärzte über 60

Dabei hatte sich bei Hausärzten zuletzt erstmals seit mehreren Jahren
kein Rückgang mehr gezeigt. Ende vergangenen Jahres waren es laut
Bundesarztregister 51 389 und damit 75 mehr als Ende 2022. Zehn Jahre
zuvor waren es allerdings noch 52 262 gewesen. Und wenn mehr und mehr
in den Ruhestand gehen, drohe vor allem im Westen Deutschlands ein
Hausarztmangel, erklärte die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV).
Bei Hausärzten sei der Anteil der Über-60-Jährigen mit 37 Prozent
besonders hoch. KBV-Chef Andreas Gassen warnte, auch wegen zu viel
Bürokratie drohe der Versorgung in der Nähe, dass sie selbst zum
Patienten werde.

Ärztepräsident Reinhardt macht sich vor dem Ärztetag dafür stark,
grundlegende Reformen anzugehen. Denn das deutsche Gesundheitswesen
sei wie wenige andere von einem kaum gesteuerten Zugang und einer
unstrukturierten Inanspruchnahme gekennzeichnet. «Das muss sich
ändern.» Tatsächlich suchen sich viele Patienten Anlaufstellen teils

selbst - und hoffen dann auf einen Termin. Ziel müsse aber sein,
Ressourcen so aufeinander abgestimmt und effizient einzusetzen, dass
sie dem Behandlungsbedarf gerecht würden, sagte Reinhardt. Die
Versorgungsausgaben würden sich so insgesamt nicht verringern, aber
das Geld könne im Patientensinne zielgerichteter verwendet werden.
Denn unnötige Arztbesuche würden entfallen.

Kürzere Wartezeiten als Anreiz

«Dabei muss das Recht auf freie Arztwahl natürlich erhalten bleiben»,

erläuterte Reinhardt. Versicherte sollten aber die Möglichkeit haben,
verbindlich eine Praxis zu wählen, die die Grundversorgung übernehme
und weitere Behandlungen koordiniere. Patienten müssten diese
«Versorgungspfade» dann auch einhalten. «Dafür muss sich
Verbindlichkeit lohnen», betonte der Ärztepräsident - etwa durch
verlässlich kurze Wartezeiten und reibungslosen Zugang zu
Fachärztinnen und Fachärzten. 

Lauterbach sprach sich schon dafür aus, Grenzen zwischen Praxen und
Kliniken aufzubrechen. «Um das System fit zu machen für die
Behandlung der Babyboomer-Generation, müssen wir ambulante und
stationäre Versorgung besser aufeinander abstimmen.» Eine
Regierungskommission schlug mittelfristig ein «Primärarztsystem» aus

Allgemeinmedizinern, Internisten, Kinderärzten, Gynäkologen und
Psychiatern vor. Es könnte dann auch die Patientensteuerung durch die
Versorgung übernehmen.