Muttertag ohne Mutter - Wenn Kinder oder Eltern den Kontakt abbrechen von Vanessa Köneke, dpa

Zum Muttertag begegnen uns viele Bilder von glücklichen Familien.
Manchmal sieht die Realität aber ganz anders aus: In etlichen
Familien gibt es Kontaktabbrüche. Die Muster ähneln sich.

Fürth/München (dpa) - Wann Svenja (32) das letzte Mal mit ihrer
Mutter gesprochen hat, weiß sie noch genau. Es war Weihnachten vor
zwei Jahren, und ihre Mutter wollte ihr - so hat sie es jedenfalls
empfunden - mal wieder vorschreiben, wie sie ihr Leben leben sollte:
Der Enkel bräuchte eine andere Frisur (eine «richtige Jungenfrisur»),

die Wohnung müsste besser geputzt sein und von ihrem Partner sollte
sie sich lieber trennen. Seither herrscht zwischen Svenja und ihrer
Mutter Funkstille. Auch den Muttertag verbringen beide getrennt -
ohne Kontakt. 

«Immer wieder habe ich meiner Mutter versucht zu erklären, dass ich
möchte, dass sie mein Leben und meine Grenzen akzeptiert, aber sie
beharrt auf ihren Vorstellungen», sagt Svenja. Zwar mache sie der
Kontaktabbruch selbst traurig, aber nach Treffen mit ihrer Mutter sei
es ihr noch schlechter gegangen. «Ich war dann oft sehr verunsichert
und wusste nicht, zu wem ich halten soll: meiner Mutter oder meiner
eigenen Familie mit unseren Wertvorstellungen.»

Zwei von Hundert ohne Kontakt zur biologischen Mutter

Kontaktabbrüche zwischen erwachsenen Kindern und Eltern sind keine
Seltenheit. In einer repräsentativen, auf mehrere Jahre angelegten
Studie mit über 10 000 Personen in Deutschland - der sogenannten
Pairfam-Studie (Panel Analysis of Intimate Relationships and Family
Dynamics) - gaben die befragten Erwachsenen in sieben Prozent der
teils wiederholten Befragungen an, keinen Kontakt zu ihrem
biologischen Vater zu haben, in zwei Prozent keinen zur biologischen
Mutter. Noch mehr fühlten sich emotional distanziert von ihren
Eltern. Fast jede zehnte Person gab innerhalb von zehn Jahren
zumindest eine Phase der Entfremdung zur leiblichen Mutter an, zum
Vater sogar jede fünfte. 

Noch wesentlich häufiger kommt es laut der Studie zu Kontaktabbrüchen
und Entfremdung bei Stiefeltern. Weitere Studien zeigen ähnliche
Häufigkeiten. Die Beziehungen zwischen den Generationen seien sehr
heterogen, bilanzieren die Autoren der Pairfam-Studie, Oliver Arránz
Becker von der Uni Halle-Wittenberg und Karsten Hank von der Uni
Köln. 

Entfremdung «kann eine gesunde Antwort sein» 

Das zeigt sich auch bei Familienberatungsstellen. Er erlebe nicht nur
Familien mit abgebrochenem Kontakt, sondern oft auch Menschen, die
noch Kontakt zur Herkunftsfamilie hätten, aber darunter litten,
berichtet Ulric Ritzer-Sachs von der Onlineberatung der
Bundeskonferenz für Erziehungsberatung (bke), einem Fachverband für
Erziehungs-, Familien- und Jugendberatung mit Sitz in Fürth. «Sie
halten den Kontakt, obwohl er ihnen nicht guttut und sie seit der
Kindheit immer wieder dasselbe erleben.» Daher schreibt die britische
Psychologin Lucy Blake, die sich eingehend mit Kontaktabbrüchen und
Distanz in Familien beschäftigt hat: «Sich zu entfremden, kann eine
gesunde Antwort auf eine ungesunde Umgebung sein.»

Zu große Enge - Wunsch nach Distanz

Gründe für Kontaktabbrüche gibt es viele. Selten sind es extreme
Gründe wie körperliche Misshandlung oder sexueller Missbrauch in der
Kindheit. Überdurchschnittlich oft kommen Kontaktabbrüche in Familien
mit getrennten Elternteilen und in Familien mit Suchtproblemen vor,
etwa wenn ein Elternteil alkoholabhängig ist. Aber auch wenn sich
Kinder bei einem Elternteil als Partnerersatz gefühlt haben und der
Kontakt zu eng war, kann das im Erwachsenenalter zu einem deutlichen
Wunsch nach Distanz führen. 

In einer Befragung aus England wurden emotionaler Missbrauch,
unterschiedliche Erwartungen an Familie und Rollenbilder sowie große
Klüfte in Werten und Persönlichkeit als Hauptgründe genannt. In einer

Studie aus den USA nannten Kinder als häufigsten Grund «toxisches
Verhalten» ihrer Eltern, wie ständige Respektlosigkeit, oder das
Gefühl, nicht unterstützt und akzeptiert zu werden. Die Eltern geben
in den Studien als Grund hingegen eher äußere Gründe an wie Scheidung

oder die Partner ihrer Kinder. 

Meistens, aber nicht immer, geht der Kontaktabbruch von den Kindern
aus; manchmal sind es die Eltern, manchmal beide Seiten. Manchmal
wissen die Beteiligten gar nicht mehr, wer es war, so Ergebnisse der
englischen Befragung.

Häufige Abwertung als Problem

«Meine Erfahrung als Therapeutin ist, dass es häufig unauflösliche
Probleme zwischen Eltern und Kindern gibt, die mit narzisstischen
Strukturen zu tun haben», sagt die Münchner Psychotherapeutin Bärbel

Wardetzki, die für ihre Arbeit zu «weiblichem Narzissmus» bekannt
ist. Etwa wenn die Kinder von den Eltern immer abgewertet werden und
das Gefühl haben, es nicht richtig machen zu können. Auch erwachsene
Menschen suchten immer noch die Liebe, Zuwendung und Anerkennung
ihrer Eltern. Davon loszulassen? Emotional sehr schwierig.

Wann ist genug genug? Offenbar gibt es verschiedene Punkte im Leben,
an denen ein Kontaktabbruch wahrscheinlicher wird. Ein solcher Punkt
kann die Trennung der Eltern sein. Laut der erwähnten Studie aus
England sind die meisten Kinder, die den Kontakt abbrechen, beim
Kontaktabbruch zwischen 20 und Mitte 30. Der Kontakt zu Vätern geht
häufiger schon vor dem Erwachsenenalter verloren. 

Laut der Pairfam-Studie kann es aber auch nach dem Tod eines
Elternteils zum Kontaktabbruch mit dem anderen Elternteil kommen.
Auch die Geburt eigener Kinder scheint so ein Punkt zu sein. «Dann
muss man sich überlegen, wie viel Kontakt die Kinder zu Ihren
Großeltern haben sollen», sagt Berater Ritzer-Sachs. Gerade wenn die
Großeltern gegenüber den Enkeln ähnliche Muster zeigen, wie die,
unter denen die Kinder leiden oder gelitten haben.

«Sich verletzlich zu machen ist schwierig»

Ein Kontaktabbruch kann hilfreich sein, aber zunächst sollte man
überlegen, ob es nicht doch eine Möglichkeit zur Versöhnung gäbe,
meint Ritzer-Sachs. «Manchmal sind es dämliche Streits, in denen
keiner den ersten Schritt machen mag.» Dann sollten beide Seiten
überlegen, ob sie nicht doch den ersten Schritt machen wollten. Doch
Wiederannäherungsversuche sollte man sich gut überlegen. «Das Visier

noch mal hochzuklappen und sich verletzlich zu machen, ist schwierig.
Man muss sich überlegen: Halte ich noch eine Verletzung aus, wenn es
wieder nach hinten losgeht?»

Selbsthilfegruppen für «Verlassene Eltern»

In England und den USA gibt es Selbsthilfeorganisationen - «Stand
alone-Community» und «Together Estranged» - die Menschen aus
zerrütteten Familien unterstützen, zum Beispiel mit Ratschlägen, wie

man mit Feiertagen - den Hochfesten der Familie - umgehen kann. Laut
einer Befragung nehmen 78 Prozent der befragten Betroffenen den
Mutter- oder Vatertag als besonders schwierige Zeit im Jahr wahr.
Ähnlich ist es bei Geburtstagen, Weihnachten, Hochzeiten und
Todesfällen. Beratung, Psychotherapien und Selbsthilfegruppen erleben
viele als hilfreich. Auch in Deutschland gibt es in mehreren Städten
Selbsthilfegruppen für Eltern oder auch Großeltern unter Titeln wie
«Verlassene Eltern». Die Kinder finden sich meist eher in
thematischen Selbsthilfegruppen, etwa als Angehörige von Alkohol-
oder Drogenkranken oder Kinder narzisstischer Eltern.

Der Malteser Hilfsdienst rät, nicht sofort zum Telefon zu greifen, da
sich die Gegenseite dadurch schnell bedrängt fühlen könnte. Besser
seien möglicherweise ein klassischer Brief oder eine E-Mail, der oder
die zu einem selbstgewählten Zeitpunkt in Ruhe und auch mehrfach
gelesen werden kann.

Svenja, die eigentlich anders heißt, hat auch das mehrfach getan:
Briefe, Sprachnachrichten, Einladungen zu Gesprächen. Sie wollte
ihrer Mutter erklären, warum ihr der Kontakt schwerfällt und was sie
sich wünschen würde. Eine Reaktion ihrer Mutter kam nie. Inzwischen
versucht sie es nicht erneut. Auch wenn Muttertag ist.