Röntgen im Ersten Weltkrieg: Das Grauen von innen Von Cordula Dieckmann, dpa
Granaten, Gewehre, Giftgas: Die Waffen im Ersten Weltkrieg waren
verheerend. Doch vielen Verwundeten konnte geholfen werden dank der
neuen Röntgentechnik. Das Deutsche Medizinhistorische Museum zeigt
nun 100 Jahre alte Aufnahmen und geht auf eine «Spurensuche».
Ingolstadt (dpa) - Mehr als neun Millionen tote Soldaten, viele
Millionen Verwundete - die Bilanz des Ersten Weltkrieges erschüttert
bis heute. Einfache Schusswunden zählten noch zu den harmloseren
Verletzungen. Manche Soldaten verloren Arme, Beine oder gar Teile
ihres Gesichts, sie wurden blind oder gelähmt. Ärzte versuchten nach
Kräften, den Schwerverwundeten zu helfen und setzten dabei auf eine
neuartige Technik: auf Röntgenbilder. «Die waren für viele verletzte
Soldaten lebensrettend, weil man Geschosssplitter im Körper
entdeckte, die man sonst nicht gefunden hätte», sagt Ulrich Hennig,
Leiter des Deutschen Röntgenmuseums im nordrhein-westfälischen
Remscheid. «Dann wären sie an Blutvergiftung gestorben.»
Ludwig Bergmann, ein Bäcker aus München, zählte zu den Patienten, die
bereits kurz nach Kriegsbeginn 1914 von der damals erst rund 20 Jahre
alten Technik profitierten. «Erhielt am 22. August bei Ingersheim mit
Infanteriegeschoss Schuss durch den linken Unterschenkel. War 16 Tage
im Lazarett in Colmar», heißt es im Krankenblatt des Lazaretts Herzog
Carl Theodor in München. Vom Unterschenkel glitt das Projektil bis in
die Ferse, wie das Röntgenbild eindrucksvoll zeigt, das noch bis 28.
September in der Ausstellung «Spurensuche» im Deutschen
Medizinhistorischen Museum in Ingolstadt zu sehen ist.
Gerade in solchen Fällen waren die Aufnahmen besonders hilfreich,
ebenso wie bei Knochenbrüchen. Auch Verletzungen an inneren Organen
wie der Lunge wurden für geschulte Mediziner sichtbar. Das erkannten
auch die Militärärzte und schrieben deshalb schon 1901 an die
Bayerischen Garnisonslazarette: «Was früher kaum bei einer sorgfältig
gemachten Leichenöffnung zu entdecken war, findet heute der mit dem
Röntgen-Apparate bewaffnete Arzt am lebenden Körper mit
Leichtigkeit.» Die Ausstattung der Krankenstationen mit den
neuartigen Geräten sei daher eine «zwingende Notwendigkeit».
Das Militär entwickelte sogar tragbare Röntgenapparate, erklärt
Hennig. Mit Pferdefuhrwerken oder Fahrzeugen wurden sie an die Front
transportiert. Den notwendigen Strom fürs Durchleuchten lieferte dann
die Lichtmaschine eines Lastwagens.
Für den Soldaten Bergmann war die Entdeckung des Geschosses an der
Ferse ein Segen, konnte es doch am 18. September 1914 in einer
gezielten Operation entfernt werden, auch wenn eine Gehstörung wegen
einer Nervenschädigung zurück blieb. Nach einer Rückkehr in ein
Ersatzbataillon verließ er den Kriegsdienst am 1. Mai 1915, kehrte in
sein Leben als Bäcker zurück und heiratete schließlich 1926.
Auch das Schicksal vieler anderer Soldaten ist bekannt, die in der
zum Lazarett umfunktionierten Augenklinik des bayerischen Herzogs
Carl Theodor untersucht wurden. Das liegt vor allem an einem seltenen
Schatz: Einem Album mit den Röntgenbildern von 81 Soldaten, jeweils
ergänzt mit den wichtigsten Daten des Verwundeten. Es war ein
Geschenk an Maria Josepha, die Frau des Herzogs, zu ihrem 59.
Geburtstag am 19. März 1916. Das historische Dokument steht im
Mittelpunkt der Ingolstädter Ausstellung.
Eine ungewöhnliche Gabe für eine aus damaliger Sicht emanzipierte
Frau, Tochter des Exilkönigs von Portugal. Nach dem Tod ihres Mannes
1909 führte die bescheidene, aber tatkräftige Dame die Klinik fort
und bot sie bei Kriegsbeginn auch als Lazarett an. Berührungsängste
kannte die Adelige nicht. Mit Hingabe kümmerte sie sich um die
Kranken, wie auch das Röntgenalbum beweist. «In dankbarer Verehrung
von den Verwundeten Ihres Lazarettes», prangt in Goldlettern auf dem
mit Königskrone und Wappen verzierten Ledereinband.
Für Historiker ist das Dokument mehr als ein Album. Es erlaubt, die
Geschichte einzelner Soldaten nachzuvollziehen. Die Leiterin des
Medizinhistorischen Museums, Marion Ruisinger, hat anhand der Bilder
viele Schicksale in Kleinarbeit zusammengetragen und für die
Ausstellung aufbereitet. «Dieses Poesiealbum von verletzten Soldaten,
diese repräsentative Aufmachung mit Ledereinband und Golddruck - und
innen das Grauen, das fand ich sehr ambivalent und irritierend.» Sie
war fasziniert: «Röntgenbilder machen den Menschen platt,
eindimensional, durchsichtig, ästhetisch. Da fehlt das Blut, da fehlt
die Wunde, das Leid kann man sich nur ein bisschen dazudenken.»
Dierk Vorwerk, Chefarzt des Instituts für Radiologie am Klinikum
Ingolstadt, kann die bisweilen etwas geisterhaft wirkenden Aufnahmen
deuten. Sie seien von außerordentlicher Qualität, hat er bei einer
Durchsicht des Albums festgestellt. Er spricht von einer Revolution:
«Durch den Ersten Weltkrieg hat sich die Radiologie als Fachgebiet
richtig etablieren können», sagt der Mediziner. «Vorher war das immer
ein Anhängsel der klassischen Inneren Medizin.»
Das große Sterben an der Front konnten die Röntgengeräte aber nicht
verhindern: von Granaten zerfetzte Körper, von Kugeln durchsiebte
Soldaten oder Männer, die den wabernden Giftgasen zum Opfer fielen.
Wer es zum Durchleuchten schaffte, dem ging es meist vergleichsweise
gut. Großes Glück war nach Ansicht Hennigs zudem die Selbstlosigkeit
des Erfinders Wilhelm Conrad Röntgen. Als kaiserlicher Beamter habe
der Forscher an der Universität Würzburg es als seine Pflicht
angesehen, seine Entdeckung der Allgemeinheit zur Verfügung zu
stellen. Der Physiker und Leiter des Deutschen Röntgen-Museums ist
überzeugt: «Röntgen hätte ein Patent anmelden können, dann hätt
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irgendeine Firma den Daumen drauf gehabt und dann hätte es im Ersten
Weltkrieg sehr viel mehr Tote gegeben.»
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