Waschbär breitet sich aus: Experten sehen heimische Tierarten bedroht Von Nicole Schippers, dpa

Seit zwei Waschbärpaare vor 90 Jahren in Nordhessen ausgesetzt
wurden, haben sich die Tiere bundesweit enorm ausgebreitet. Experten
zufolge sind sie eine Bedrohung für die Vielfalt heimischer Arten.

Kassel/Frankfurt/Berlin (dpa) - Nachts klappern die Mülleimerdeckel,
am nächsten Morgen liegt der Unrat rundherum verteilt auf der Straße.
Auf der Suche nach Nahrung sind Waschbären nicht gerade
rücksichtsvoll und wählerisch, dafür aber umso geschickter und
anpassungsfähiger. Bei der massiven Verbreitung der Tiere in
Deutschland ist das inzwischen ein Problem. Denn die Allesfresser mit
der charakteristischen Zorro-Maske stören nicht nur die Nachtruhe in
Wohngebieten, sondern bedrohen Experten zufolge auch den Bestand
manch heimischer Tierart.

«Waschbären fressen immer das, von dem am meisten da ist», sagt der
Wildtierbiologe Norbert Peter von der Universität in Frankfurt. Er
untersucht mit anderen Experten im Rahmen des Verbundprojektes Zowiac
(Zoonotische und wildtierökologische Auswirkungen invasiver
Carnivoren)  das Jagdverhalten von Waschbären in ausgewählten
Naturschutzgebieten. Im Frühjahr etwa seien das Amphibien, die auf
dem Weg zu ihren Laichgründen seien, um dort ihre Eier abzulegen. Der
Waschbär wähle sie als Nahrungsressource ganz gezielt aus. «Das kann

Auswirkungen haben auf bedrohte Arten.» 

Schätzungsweise zwei Millionen Waschbären in Deutschland

Laut Peter bringt es der dämmerungs- und nachtaktive Waschbär
mittlerweile auf schätzungsweise zwei Millionen Exemplare bundesweit,
Tendenz steigend. Als das für die Verbreitung des ursprünglich aus
Nordamerika stammenden Raubtiers in Europa wichtigste Ereignis gilt
die Aussetzung zweier Waschbärpaare am 12. April 1934 am
nordhessischen Edersee. Auch flohen 1945 nach einem Bombentreffer im
Zweiten Weltkrieg auf eine Pelztierfarm bei Strausberg in Brandenburg
einige Tiere. Ohne natürliche Feinde konnten sie sich seither nahezu
ungehindert verbreiten. Seit 2016 werden sie auf der sogenannten
Unionsliste geführt, die invasive Arten in der EU enthält. 

«Waschbären sind inzwischen in fast ganz Deutschland anzutreffen»,
sagt Torsten Reinwald, Pressesprecher und stellvertretender
Geschäftsführer des Deutschen Jagdverbands (DJV). Besonders
verbreitet seien die Tiere in Nordhessen, Südniedersachsen und
Brandenburg. Sie seien in fast allen Bundesländern unter Beachtung
des Muttertierschutzes ganzjährig jagdbar. So wurden laut
DJV-Statistik im Jagdjahr 2022/23 bundesweit offiziell 202 821
Waschbären getötet, in der Saison 2000/01 waren es noch 9064.

Die zur Familie der Kleinbären zählenden Tiere seien ausgesprochen
anpassungsfähig und intelligent und könnten sehr gut klettern und
schwimmen, erklärt Reinwald. «So können sie sehr viele ökologische

Nischen besetzen und anderen Arten den Lebensraum streitig machen
oder sie fressen.» In Thüringen beispielsweise besetzten Waschbären
inzwischen die Hälfte aller potenziellen Nistplätze für Uhus und
würden die Vögel vertreiben. In Brandenburg weise eine Vielzahl der
streng geschützten Europäischen Sumpfschildkröten Verstümmelungen
auf. «Die Waschbären fressen ihre Gliedmaßen und plündern ihre
Gelege.» Sie patrouillierten auch an Krötenschutzzäunen und
verzehrten die Amphibien aus den Eimern. 

Giftige Haut von Kröten wird abgeschält

Um das Jagdverhalten der Waschbären genauer zu beleuchten, haben
Wildtierbiologe Peter und sein Team Daten in Naturschutzgebieten in
Hessen sowie in Brandenburg und Sachsen-Anhalt gesammelt. Dabei
fanden die Wissenschaftler heraus, dass Waschbären auch Fressfeinde
(Prädatoren) von streng geschützten Erdkröten, Gelbbauchunken und
deren Laich sind. Deren giftige Haut hält sie dabei nicht ab. «Die
Waschbären häuten sie, bevor sie sie fressen. Das zeigen viele
Opfer-Funde», berichtet Peter. 

Vor allem in isolierten Laichgewässern hätten Waschbären negative
Auswirkungen auf das Amphibienvorkommen. «Wir sehen einen
Prädationsdruck auf geschützte Amphibien und Reptilien in bestimmten
Gebieten, der für diese Arten teilweise bestandsbedrohend ist», sagt
Peter. In Mageninhalten der Waschbären fanden die Forscher nach
seinen Angaben häufig Reste von Ringelnattern. Durch genetische
Nachweise habe im Untersuchungsgebiet Rheingau-Taunus-Kreis auch ein
während der Eiablage gefressenes Exemplar der stark gefährdeten
Äskulapnatter identifiziert werden können.

«Der Waschbär ist ein niedliches und knuddeliges Tierchen, aber man
darf nicht vergessen, dass er ein Beutegreifer ist», sagt Julian
Heiermann vom Naturschutzbund Deutschland (Nabu). Viele
Amphibienarten hätten ohnehin schon massive Probleme bei der
Reproduktion, etwa durch die Ausbringung von Pestiziden und Dünger,
die Zerschneidung der Lebensräume durch Verkehrswege sowie durch den
fortschreitenden Klimawandel und die damit einhergehenden Dürren bei
denen Laichgewässer wiederholt austrockneten. «Und dann kommt ein
Prädator wie der Waschbär noch obendrauf.»

Jagd als wirksames Mittel umstritten 

Wie also umgehen mit den possierlichen Plagegeistern? «Los werden wir
den Waschbären nicht mehr», sagt Reinwald. «Aber mit der Jagd könne
n
wir die Bestände schon stark reduzieren. Es gibt keine effektivere
Maßnahme.»  Unabdingbar sei dabei die Fangjagd, die aber
beispielsweise in Berlin nicht erlaubt sei. «Fast 40 Prozent der
Tiere werden in Lebendfallen gefangen.» Die Politik müsse sich zur
Jagd als Artenschutz-Instrument bekennen, fordert er.

Der Nabu sieht die Bejagung oder den Fang des Waschbären hingegen
kritisch. Eine verstärkte Fallenjagd sei kein probates Mittel, um das
Problem zu lindern, sagt Heiermann. «Theoretisch wäre es möglich die

Population damit einzudämmen. Praktisch ist das zu aufwendig. So
viele Fallen kann man gar nicht aufstellen, um die
Waschbärenpopulation großflächig zurückzudrängen.» Zudem seien

entsprechende Maßnahmen auch in der Vergangenheit ohne Erfolg
geblieben: «Der Waschbär wird schon ewig bejagt, trotzdem hat er sich
munter weiterverbreitet.» Auch Sterilisation und Kastration der Tiere
seien keine Lösung, ebenso wenig die medikamentöse Verhütung. «Das

sind nette Ideen, aber sie sind zu aufwendig, um praxistauglich zu
sein.»

Eine Musterlösung habe auch der Nabu nicht. «Die Frage ist aus
unserer Sicht, wie wir den heimischen Populationen unter die Arme
greifen können. Dazu müssen wir ihren Lebensraum stärken. Dann könn
en
sie sich wieder besser reproduzieren und Ausfälle besser
kompensieren.» Die Tiere brauchten geschützte und vielseitige
Lebensräume, um sich ernähren, verstecken und fortpflanzen zu können.

«Amphibien beispielsweise brauchen mehr Gewässer und mehr natürliche

Uferzonen mit Versteckmöglichkeiten. Der Waschbär wird sie trotzdem
aufsuchen, aber er wird es dann nicht mehr so leicht haben, sie
abzugreifen.»