Eineinhalb Jahre bis zur Bundestagswahl: Was wuppt die Ampel noch? Von den dpa-Korrespondenten

Wann hat der Bundestag eigentlich das letzte große Gesetz
verabschiedet? Die Ampel-Koalition vermittelt das Gefühl, mehr
festzustecken als zu beschließen. Nur ein Stichwort:
Kindergrundsicherung.

Berlin (dpa) - Beinahe wäre es eine Bundestagswoche ohne einen
einzigen Gesetzesbeschluss geworden. Quasi kurz vor Toresschluss
setzte die Ampel-Koalition dann doch mehrere Themen zur finalen
Abstimmung auf die Tagesordnung. Noch schlimmer die Sitzungswoche vor
Ostern. Einziger Gesetzesbeschluss: die Umsetzung einer EU-Verordnung
aus Brüssel. Ist die selbsternannte Fortschritts-Koalition rund
eineinhalb Jahre vor der nächsten Bundestagswahl zur
Stillstands-Koalition geworden? Das zumindest wirft die
oppositionelle Union der Ampel ja gerne vor. Oder haben SPD, Grüne
und FDP die großen Brocken einfach schon abgearbeitet - und eher ein
Kommunikations- als ein Fleißproblem?

Für Bundeskanzler Olaf Scholz jedenfalls ist die Sache klar: Der
größte Teil seines Ampel-Koalitionsvertrags von 2021 sei umgesetzt.
«Wenn man den Koalitionsvertrag und was wir aufgeschrieben haben
nimmt, würden wir sicherlich eher bei 80, 90 Prozent liegen», sagte
der SPD-Kanzler Anfang der Woche bei der Verlagsgruppe VRM in Mainz.
«100 werden wir wohl nicht erreichen», meint er - das wäre für eine

Bundesregierung auch sehr ungewöhnlich. «Aber dass wir bei 90 Prozent
landen trotz eines ziemlich ehrgeizigen Programms für eine gute
Zukunft für Deutschland, das halte ich für möglich», sagte Scholz.


Es wäre eine verdammt gute Bilanz - jedenfalls verglichen mit den
Vorgängerregierungen. Nach einer Auswertung der Bertelsmann-Stiftung
setzte die große Koalition von Angela Merkel zwischen 2018 und 2021
rund 73 Prozent ihrer Versprechen vollständig und weitere 5 Prozent
teilweise um. Von 2013 bis 2018 schaffte die GroKo sogar nur 64
Prozent der Koalitionsvertrags-Zusagen vollständig und 15 Prozent
teilweise. Mehr als ein Fünftel der Versprechen blieben uneingelöst. 


Die Ampel-Koalition hatte laut Bertelsmann-Stiftung schon zur
Halbzeit knapp zwei Drittel (64 Prozent) ihrer Vereinbarungen
umgesetzt oder auf den Weg gebracht. Läuft demnach alles super für
SPD, Grüne und FDP? Das würde wohl kaum ein Beobachter des Berliner
Politikbetriebs gerade mit Ja beantworten. Zu groß sind die
grundsätzlichen ideologischen Gräben, die zwischen den drei
ungleichen Partnern fast überall jenseits der Gesellschaftspolitik
aufklaffen.

Stichwort Kindergrundsicherung, eines der Prestigeprojekte aus dem
Ampel-Koalitionsvertrag. Schon vor dem Kabinettsbeschluss gab es viel
Hin und Her - damals ging es ums Geld. Jetzt, Monate später, liegt
ein Gesetzentwurf im Parlament, doch die Personalvorstellungen von
Familienministerin Lisa Paus (Grüne) sorgen für Zoff vor allem
zwischen ihren Grünen und der FDP. Umsetzung zum 1. Januar 2025? Mehr
als fragwürdig.

Am Dienstag nahm die Koalition in letzter Minute doch noch
Gesetzesbeschlüsse auf die Tagesordnung für die Bundestagssitzung
dieser Woche: unter anderem das Energiewirtschaftsgesetz und das
Selbstbestimmungsgesetz, das es transgeschlechtlichen Menschen
einfacher machen soll, ihren Geschlechtseintrag und Vornamen zu
ändern. Doch bei vielen Großprojekten läuft es zäh. 

Seit Monaten gibt es Verhandlungen über ein Solarpaket und eine
Reform des Klimaschutzgesetzes. Von der FDP blockiert sind
Beschränkungen bei der Werbung für ungesündere Lebensmittel an die
Adresse von Kindern. Die vorgesehenen Erleichterungen beim
Familiennachzug für Flüchtlinge mit eingeschränktem Schutzstatus
stehen ebenfalls aus. Hinter den Kulissen ist zu hören, dass dieses
Vorhaben erst einmal zurückgestellt wurde, weil die Kommunen mit der
Versorgung und Integration der Ukraine-Kriegsflüchtlinge und
Asylbewerber schon alle Hände voll zu tun haben.

Grüne und SPD regt auf, dass Bundesjustizminister Marco Buschmann
(FDP) lange keine Anstalten gemacht hat, das Mietrecht zu
verschärfen. Seine Partei glaubt nicht, dass sich die angespannte
Lage auf dem Wohnungsmarkt mancher Ballungsgebiete damit beheben
ließe. Jetzt hat er sich zwar bereiterklärt, die Mietpreisbremse, die
sonst Ende 2025 auslaufen würde, bis 2029 zu verlängern. Ausreichend,
um Mieter vor überhöhten Mieten zu schützen, ist das aus Sicht der
Koalitionspartner aber nicht. 

Nach wie vor auf sich warten lässt das vereinbarte Tariftreuegesetz
aus dem Haus von Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD). Laut einer
Vorlage vom vergangenen Frühjahr sollten nur noch Arbeitgeber größere

Aufträge vom Bund bekommen, die ihre Beschäftigten nach Tariflohn
bezahlen. Die Arbeitgeber liefen dagegen Sturm.

Mit den Ländern verhakt hat sich die Ampel-Regierung etwa bei einer
großen Reform zur Neuaufstellung der Krankenhäuser - und beim
sogenannten Digitalpakt 2.0. Es geht um die Digitalisierung der
Schulen. Ampel und Länder streiten darüber, wer wie viel Geld
bereitstellt. Das Bafög hat die Koalition zwar einmal erhöht und auch

eine Studienstarthilfe für Studenten aus ärmeren Familien auf den Weg
gebracht. Die grundlegende Reform, wie im Koalitionsvertrag
verabredet, gab es bisher aber nicht. Ob das Straßenverkehrsgesetz in
dieser Legislaturperiode noch reformiert wird, ist auch völlig offen.
Es soll Städten und Gemeinden mehr Spielraum geben zum Beispiel für
die Einrichtung von Busspuren und Tempo-30-Zonen, wurde aber vom
Bundesrat gestoppt.

Insgesamt hatten die Ampel-Parteien in ihrem Koalitionsvertrag am 8.
Dezember 2021 auf 141 Seiten 453 Versprechen gemacht. Damit nahm sie
sich viel vor, deutlich mehr als die Vorgängerregierung mit nicht
einmal 300 Vorhaben. Durch Ukraine-Krieg, Energiekrise und Inflation
wurde der Berg an Arbeit noch einmal größer: Krisenmanagement hatte
plötzlich Vorrang. 

Nun bleibt der Regierung nicht mehr allzu viel Zeit, neue Vorhaben in
Gang zu bringen. Zwar könnten SPD, Grüne und FDP eigentlich bis zur
Sommerpause 2025 noch Gesetze beschließen. Doch bis ein Entwurf durch
die Abstimmung der Ressorts, durchs Kabinett, dann durch den
Bundestag und den Bundesrat gegangen ist, vergehen mitunter Monate.
Parallel sind die Ampel-Parteien eigentlich schon im Wahlkampf: erst
für die Europawahl im Juni, dann für die Landtagswahlen in Thüringen,

Sachsen und Brandenburg im September. Bis zum Jahresende müssen auch
die Weichen für die Bundestagswahl gestellt sein: Es gilt nicht nur
Spitzenkandidaten zu nominieren, sondern auch Programme zu
erarbeiten. Die heiße Wahlkampfphase beginnt dann üblicherweise schon
im Frühsommer.

Bis dahin werden die Ampel-Parteien versuchen, ihren Ruf
aufzupolieren. Schon zur Halbzeit der Koalition hieß es, eigentlich
liefere die Regierung besser ab, als sie öffentlich wahrgenommen
werde. Doch im Gedächtnis der Wähler bleibt häufig nicht, was
reibungslos klappt und schnell abgeräumt ist, sondern wo sich die
Partner verhaken - wo Kompromisse gemacht werden, die am Ende keiner
als Erfolg verkaufen kann, weil man zuvor jede denkbare Lösung für
unmöglich erklärt hatte. Das anzugehen, scheint nun dringender als
die letzten Prozentpunkte des Koalitionsvertrags.