Studienautorin beklagt toxische Debatte in England um Transsexualität

Auch wegen kritischer Aussagen von Prominenten wie J.K. Rowling wird
in Großbritannien scharf über Fragen geschlechtlicher Identität
gestritten. Eine Studie mahnt zu einem wissenschaftlichen Ansatz.

London (dpa) - Die Autorin eines lange erwarteten
Untersuchungsberichts zu staatlichen Angeboten für transsexuelle
Jugendliche in Großbritannien hat eine vergiftete Diskussion durch
Kulturkriege beklagt. «Die Debatte ist so toxisch geworden, dass
Menschen Angst haben, in diesem Bereich zu arbeiten», sagte die
pensionierte Kinderärztin Hilary Cass der Zeitung «Guardian»
(Mittwoch). Zudem sei die Gefahr groß, dass Eltern und Ärzte, die
sich gegen eine Geschlechtsanpassung aussprechen, in sozialen
Netzwerken vorschnell als transphob verurteilt werden.

Der am Mittwoch veröffentlichte Bericht untersucht Angebote des
staatlichen Gesundheitsdiensts NHS für Minderjährige, die sich in
ihrem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht nicht wohlfühlen. Die
Studie war 2020 vom National Health Service (NHS) in Auftrag gegeben
worden. Anlass war ein starker Anstieg der Fälle. In den vergangenen
15 Jahren nahm die Zahl der an den NHS überwiesenen jungen Patienten
von etwa 50 auf mehr als 3000 pro Jahr zu. Mittlerweile gehe es vor
allem um Jugendliche, die bei ihrer Geburt als Mädchen identifiziert
wurden, sagte Cass.

Verantwortlich für die zugespitzte Lage seien die Erwachsenen. «Die
Minderjährigen werden als Spielball benutzt, und dieser Gruppe
sollten wir mehr Mitgefühl entgegenbringen.» Jugendliche seien im
Stich gelassen worden, weil die Wissenschaft nicht gut genug sei und
keine guten Daten vorhanden seien, sagte Cass. Das bisherige System
habe versagt.

Gesundheitsdienst will alle Behandlungsangebote überprüfen

NHS England kündigte eine umfassende Überprüfung aller Behandlungen

an. Der Gesundheitsdienst hatte bereits im März die Verschreibung von
Pubertätsblockern an Minderjährige gestoppt. Die Medikamente, die das
Einsetzen von Pubertätsmerkmalen wie Menstruation, Brustwachstum und
Stimmbruch verhindern, dürfen nur noch bei klinischen Studien zum
Einsatz kommen.

Die Regierung begrüßte den Bericht. «Wir kennen die langfristigen
Auswirkungen einer medizinischen Behandlung oder eines sozialen
Übergangs auf sie einfach noch nicht und sollten daher äußerste
Vorsicht walten lassen», sagte der britische Premierminister Rishi
Sunak. Die in den Umfragen führende Labour-Partei versicherte, sie
wolle im Falle eines Wahlsieges die Empfehlungen umsetzen.

Kulturkrieg um geschlechtliche Identität

Die gesellschaftliche Debatte um geschlechtliche Identität wird in
Großbritannien vor allem von konservativen Kreisen zunehmend als
Kulturkrieg geführt. Kommentatoren sehen darin einen Versuch,
angesichts des enormen Rückstands in den Umfragen noch Stimmen vor
der für dieses Jahr geplanten Parlamentswahl zu gewinnen. Für
Aufsehen sorgen auch Stellungnahmen von Prominenten wie «Harry
Potter»-Autorin J.K. Rowling, die Transfrauen stets als Männer
bezeichnet.

Die Regierung hatte unter anderem reinen Mädchen- und Jungenschulen
genehmigt, transsexuelle Schülerinnen beziehungsweise Schüler
abzulehnen, ohne dass juristische Folgen wegen Diskriminierung
drohen. Lehrkräfte können sich weigern, Schülerinnen und Schülern m
it
selbst gewählten Pronomen zu bezeichnen.

Als Transmenschen oder Transgender werden Personen bezeichnet, die
sich dem Geschlecht, das ihnen bei Geburt zugeschrieben wurde, nicht
zugehörig fühlen.

Mentale Gesundheit soll berücksichtigt werden

Der knapp 400 Seiten lange «Cass Report» enthält 32 Empfehlungen zur

Funktionsweise sogenannter Gender-Dienste für Minderjährige. Dazu
gehören Überlegungen zu medizinischen Eingriffen, weiterer Forschung
und Schutzmaßnahmen. Cass plädierte für eine bessere Erforschung der

Charakteristika junger Menschen, die eine Behandlung anstreben, sowie
einen individuellen, ganzheitlichen Ansatz. Dabei solle auch die
mentale Gesundheit untersucht werden, da viele Jugendliche an ADHS,
Autismus, Angstzuständen oder Depression litten.