Kurz vorm Platzen vor Wut? Zettel und Stift können ein Ausweg sein

Der Körper ist in Aufruhr, man könnte platzen vor Wut. Doch im
Meeting oder dem Nachwuchs gegenüber auszurasten, ist meist keine
gute Idee. Tricks können helfen - manchmal genügen Zettel und Stift.

Nagoya (dpa) - Kaltes Wasser ins Gesicht, Kniebeugen, ein scharfes
Bonbon lutschen: Alltagstipps zum Dimmen akuter Wut gibt es viele.
Manchem hilft womöglich eine ganz einfache Lösung: Die eigene Wut zu
Papier bringen und dieses dann wegwerfen - einer japanischen Studie
zufolge funktioniert das. Wenn die eigene Gefühlslage aufgeschrieben
und das Blatt dann in einen Schredder oder Mülleimer gesteckt wird,
schwinde die Wut nahezu komplett, berichten die Forscher im
Fachjournal «Scientific Reports».

«Wir hatten erwartet, dass unsere Methode die Wut bis zu einem
gewissen Grad unterdrücken würde», sagte der leitende Forscher
Nobuyuki Kawai. «Wir waren jedoch erstaunt, dass die Wut fast
vollständig beseitigt wurde.»

Asiatische Kultur: Wut zeigt man nicht

Eva Möhler vom Universitätsklinikum in Homburg gibt zu bedenken, dass
dem Unterdrücken von Gefühlen wie Ärger und Wut in asiatischen
Kulturen weit mehr Bedeutung zugemessen werde als in westlichen
Ländern. «Bei uns kann meiner Einschätzung nach viel direkter
mitgeteilt werden, was einen stört», erklärte die Direktorin der
Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und
Psychotherapie, die nicht an der Studie beteiligt war. Für einen
Japaner hingegen sei womöglich allein schon das Aufschreiben seiner
Gefühlslage ein großer Schritt. «Daher sind die Studienergebnisse auf

unsere Kultur eventuell nur eingeschränkt übertragbar.»

Nobuyuki Kawai und Yuta Kanaya von der Universität Nagoya hatten rund
hundert Studierende gebeten, kurze Stellungnahmen zu
gesellschaftlichen Fragen wie einem Rauchverbot in der Öffentlichkeit
zu verfassen. Diese wurden vermeintlich einem Experten zur Bewertung
gegeben. Tatsächlich erhielten aber alle Teilnehmenden dieselbe
schlechte Bewertung, zudem war handschriftlich ein abwertender
Kommentar vermerkt: «Ich kann nicht glauben, dass ein gebildeter
Mensch so denkt. Ich hoffe, diese Person lernt etwas, während sie an
der Universität ist.»

Alle Probanden verspürten daraufhin Wut. Sie wurden gebeten, ihre
Gedanken zur Rückmeldung aufzuschreiben. Anschließend sollte eine
Gruppe den Zettel in einem Mülleimer oder einem Schredder entsorgen,
eine zweite Gruppe sollte ihn in einer Box oder einem Ordner auf dem
Schreibtisch verwahren. 

Wut wandert in den Müll

Über Fragebögen wurde das emotionale Befinden der Männer und Frauen
vor und direkt nach der Bewertung sowie nach dem Wegwerfen oder
Behalten des Papiers erfasst. Bei denen, die ihr Papier in den
Mülleimer warfen oder schredderten, schwand die Wut den Ergebnissen
zufolge bis zum emotionalen Ausgangszustand. Bei denen, die den
Zettel aufbewahrt hatten, nahm die Wut in geringerem Maße ab, wie die
Forscher berichten.  

Das Schreiben und Vernichten wirke bei Wut offenbar ähnlich, wie ein
Teddybär als Trost oder bei Angst wirken könne, so die Forscher. Ein
Objekt wegzuwerfen, das mit negativen Emotionen wie Wut verbunden
sei, könne dabei helfen, diese loszuwerden. «Jeder, der einen Stift
und ein Stück Papier hat, kann diese Methode anwenden.» Unklar sei
bisher, ob sich das Konzept auch digital umsetzen lasse - ob es also
auch helfe, seine Wut auf dem Smartphone oder Laptop
niederzuschreiben und den Text dann zu löschen.

Memo im Meeting

Kawai sieht einen praktischen Nutzen als schnelle, einfache Maßnahme
etwa für Geschäftsleute: Sie könnten in stressigen Situationen den
Grund momentanen Ärgers notieren und das Memo dann wegwerfen.
Interessant sei das Ergebnis auch mit Blick auf eine japanische
Kulturtradition, die unter dem Namen Hakidashisara am Hiyoshi-Schrein
in Kiyosu praktiziert werde. Bei dem jährlichen Fest werden demnach
kleine Scheiben zerschlagen, die wütend machende Dinge darstellen.
Teilnehmer berichteten dabei von einem Gefühl der Erleichterung, so
die Forscher.

In andauerndem Wütend-Sein zu verharren, ist ungesund - unter anderem
wird Untersuchungen zufolge das Herz-Kreislauf-System belastet. Bei
einem akuten Wutanfall könne intensive Bewegung helfen, sich selbst
wieder runterzubringen, erklärte Möhler: die Treppe hoch und runter
zu laufen, einen Boxsack zu nutzen oder - so man in einem Meeting
feststeckt - alle Muskeln ganz fest anzuspannen. Manchen Menschen
helfen auch Kältereize wie kaltes Wasser auf Gesicht oder Armen, das
Flitschen eines Gummibandes am Handgelenk oder ein starker
Geschmacksreiz etwa durch ein scharfes Bonbon. Zu den ungesunden
Strategien der Wutbewältigung zählten das Rauchen und Alkoholkonsum.

Wut kommt oft aus der Kindheit

Dass manche Menschen schnell wütend werden, ist Möhler zufolge
keineswegs allein auf ererbtes Temperament zurückzuführen. Oft liege
die Ursache in der Kindheit, sei in Erfahrungen mit Gewalt,
Misshandlung, Vernachlässigung oder dem Aufwachsen mit
drogenabhängigen oder psychisch kranken Elternteilen begründet. «Je
mehr solchen Stress man in der Kindheit erlebt, desto anfälliger ist
man unter anderem auch für Wutanfälle.» Dieser Zusammenhang bleibe
über Jahrzehnte, wahrscheinlich sogar lebenslang sichtbar.

Bedenklich sei vor diesem Hintergrund, dass sich bei Kindern und
Jugendlichen im Zuge der Corona-Pandemie psychische Auffälligkeiten
verdoppelt hätten. «Es gibt mehr schwierige Gefühle und häufiger ei
ne
ungesunde Art, sie auszudrücken.» Bisher sei dieser negative
Pandemie-Effekt Studien zufolge überraschenderweise auch nicht
geschwunden.