Immer mehr Hilfsbedürftige müssen ihr Schicksal in fremde Hände legen Von Bettina Grönewald, dpa

Wer sich nicht mehr um seine eigenen Angelegenheiten kümmern kann,
braucht einen rechtlichen Betreuer. Immer weniger Angehörige trauen
sich das zu - auch bei professionellen Betreuern gibt es Mangel.

Düsseldorf (dpa/lnw) - Die Zahl der Menschen, die ihr Leben nicht
mehr selbst regeln können und auch keinen ehrenamtlichen Betreuer aus
dem familiären oder privaten Umfeld haben, ist in Nordrhein-Westfalen
überdurchschnittlich stark gestiegen. Experten aus Justiz,
Wohlfahrts- und Betreuungsvereinen warnen, dass das ohnehin schon
dünner werdende Netz an professionellen Betreuern nicht ausreichen
wird, wenn die Baby-Boomer-Generation zunehmend in ein
hilfsbedürftiges Alter kommt. 

In schriftlichen Stellungnahmen an den Düsseldorfer Landtag fordern
sie angesichts unattraktiver Arbeitsbedingungen eine auskömmliche
Vergütung für die Betreuer und mehr Anreize für ehrenamtliche
Betreuung. Im Rechtsausschuss des Landtags wird es dazu am 23. April
eine Sachverständigen-Anhörung geben.

Das Betreuungsrecht dient dem Schutz und der Unterstützung
erwachsener Menschen, die wegen einer psychischen Krankheit oder
einer körperlichen, geistigen oder seelischen Behinderung ihre
Angelegenheiten ganz oder teilweise nicht mehr selbst regeln können.
Das Gesetz gehe in solchen Fällen vom Leitbild der ehrenamtlichen
Betreuung aus - vornehmlich durch geeignete Personen im Umfeld der
Betroffenen, erläutert NRW-Justizminister Benjamin Limbach (Grüne) in
einer Vorlage an den Rechtsausschuss. 

Immer mehr Hilfsbedürftige müssen sich von Fremden betreuen lassen  


Tatsächlich sinke die Zahl der ehrenamtlichen Betreuer aber seit
Jahren. Während 2008 noch 63 Prozent der vom Betreuungsgericht
bestellten Personen aus diesem Kreis stammte, sei es mittlerweile
weniger als die Hälfte, stellte der Minister fest. Nach Angaben des
ehemaligen Essener Betreuungsrichters Georg Dodegge fiel NRW im Jahr
2021 mit einer Quote von nur 43 Prozent an Betreuern aus dem
familiären oder sonstigen ehrenamtlichen Kreis weit hinter Bayern,
Hessen oder dem Saarland zurück.

Dieser Trend werde sich angesichts der Überalterung der Gesellschaft
und der Erosion familiärer Strukturen fortsetzen, prognostizieren in
ihren Stellungnahmen sowohl der Bundesverband der Berufsbetreuer
(BdB) als auch der Sprecher der Bundeskonferenz der Betreuervereine,
Stephan Sigusch. Dabei sei es kontraproduktiv, dass immer mehr
Betreuer ihren Beruf aufgrund mangelhafter Kostendeckung aufgeben und
viele Betreuungsvereine deswegen schließen müssten, beklagte der
BdB. 

Viele professionelle Betreuer vor dem Ruin

Eine Mitgliederbefragung in den Betreuungsvereinen im Gebiet der
Diakonie Rheinland-Westfalen-Lippe im August 2023 habe ergeben, dass
etwa jeder zweite für 2024 einen Liquiditätsengpass und damit
drohende Insolvenz und Abwicklung erwarte, bestätigte auch die
Evangelische Familienhilfe Oberhausen in ihrer Stellungnahme. Auch
wenn das Bundesjustizministerium die Vergütung bis zum Jahresende auf
den Prüfstand stellen wolle, komme das für etliche beruflich tätige
Betreuer zu spät und bedeute «für viele den wirtschaftlichen Ruin».


Die aktuelle Vergütungsstruktur basiere auf einer mehr als 20 Jahre
alten Erhebung und spiegele nicht mehr die tatsächlichen Kosten und
Strukturen der Berufsbetreuer wider, stellte Dodegge fest. Hinzu
komme, dass eine Novellierung des Betreuungsrechts Mehraufwand nach
sich gezogen habe, schreibt der Jurist. In mehreren Stellungnahmen
heißt es, die Betreuungspauschale müsste um 30 Prozent angehoben und
jährlich angepasst werden, um die Deckungslücke zu schließen. 

5-Sterne-Hotel fordern, aber nur Campingplatz bezahlen

«Man kann nicht 5-Sterne-Hotel fordern, aber nur Campingplatz
bezahlen wollen», kritisiert Holger Altmann, der ein Betreuungsbüro
in Herten betreibt. Die Ansprüche des Gesetzgebers - mit allem
Zeitaufwand zu Entscheidungsfindungen im Sinne der Betroffenen und
den nach der Novelle 2023 erweiterten Berichtspflichten - seien
kostendeckend nicht seriös zu erfüllen. 

Die meisten Aufgaben seien viel zu komplex, um sie «mal eben» zu
erledigen - etwa, wenn es darum gehe, den Wunsch und Willen eines
Wachkoma-Patienten zu ermitteln. Ehrenamtliche gäben daher häufig
auf. Und weil die professionelle Betreuung schlecht vergütet werde,
wanderten viele in besser bezahlte Tätigkeiten in der Sozialarbeit
ab. 

Betreuer brauchen gute Nerven

Für etliche Betroffene seien die Betreuungsvereine «das letzte
soziale Auffangnetz, wenn andere Hilfeleistungsstrukturen ihre
Unterstützung bereits eingestellt haben - teils aus Überforderung»,
unterstreicht auch die Freie Wohlfahrtspflege NRW. Was das in der
Praxis bedeutet, schildert die Evangelische Familienhilfe Oberhausen
in plastischen Fallbeispielen.

So habe sich etwa einer ihrer Betreuer um einen erblindeten,
schwerhörigen Rentner zu kümmern, bei dessen aufwendiger Versorgung
der Pflegedienst bereits «das Handtuch geworfen» hatte. «Der
Vermieter droht mit der Räumungsklage, weil dem alten Mann die
Badewanne übergelaufen und ein enormer Wasserschaden in den darunter
liegenden Wohnungen entstanden ist. Die Nachbarn laufen beim
rechtlichen Betreuer Sturm, weil der Fernseher zu laut ist und sie
tagsüber wie nachts von dem Senior um Geld, Lebensmittel und andere
diverse Hilfeleistungen gebeten werden.»

In anderen Fällen gerieten Betreuer zwischen die Fronten streitender
Angehöriger oder würden von psychotischen Suchtkranken «mit
Telefonanrufen bombardiert, beschimpft und bedroht». All das seien
«keine exotischen Fälle», schreibt der Vereinsvorstand in seinem
Erfahrungsbericht. Dabei habe ein Mitarbeiter etwa 53 Betreuungen zu
führen und pro Woche und Kopf im Durchschnitt nur 40 Minuten Zeit.
Solche Rahmenbedingungen seien absurd. 

Die Angst vor Fehlern

Die Freie Wohlfahrtspflege berichtet von Erschöpfung, Überlastung und
Langzeiterkrankungen bei vielen Betreuern und der Befürchtung, Fehler
zu machen. Neue Fachkräfte seien schwer zu finden, weil der Beruf
mittlerweile ein negatives Image habe. Der Berufsbetreuerverband
fordert von der Landesregierung, sich im Bund für eine tiefgreifende
Reform des Vergütungssystems einzusetzen und zugleich auf Landesebene
bessere Rahmenbedingungen zu schaffen - etwa durch steuerliche
Entlastungen. 

Nach Angaben der Bundeskonferenz der Betreuungsvereine wurden Ende
2021 in NRW rund 287 000 rechtliche Betreuungen geführt. Mehr als 76
000 Menschen wurden demnach durch Familienangehörige rechtlich
betreut und mehr als 42 000 durch ehrenamtliche Fremdbetreuer. «Das
Ehrenamt deckt somit jetzt weniger als die Hälfte der rechtlichen
Betreuungen ab.» Wenn keine natürliche Person und kein
Betreuungsverein zur Verfügung steht, muss die Kommune eine
«Amtsbetreuung» übernehmen. 

Nach Angaben des NRW-Justizministers fördert das Land die
Betreuungsvereine mit 10,5 Millionen Euro jährlich. Die bezahlen
davon ihre angestellten Betreuer und unterstützen Ehrenamtler.
Daneben arbeiten auch selbstständige Berufsbetreuer auf eigene
Rechnung.