Mediziner im Wendland gesucht - Gratwanderung für Hausärzte Von Britta Körber und Philipp Schulze , dpa

Im Wendland ist der Weg zum nächsten Hausarzt oft weit. Die Praxen
sind meist überlaufen. Manche Ärzte fühlen sich wegen des naturnahen

Lebens und der Gemeinschaft untereinander trotzdem sehr wohl.

Lüchow (dpa/lni) - Seit Jonas Niemann die Frühsprechstunde eingeführt

hat, schafft er noch mehr Patienten am Tag. Von 8.00 bis 8.30 Uhr
geht es nur um ein Anliegen an seinem Stehpult, die Zeit ist auf fünf
Minuten begrenzt. «So ein Termin ist sehr begehrt, weil es keine
Wartezeit gibt», erzählt der 48-Jährige. Vor 14 Jahren zog es den
gebürtigen Göttinger ins Wendland, weil seine Frau, eine
Agraringenieurin, als Landwirtstochter in die Heimat zurückwollte. 

Zu seiner Hausarztpraxis in der beschaulichen Gemeinde Lemgow kommt
der Vorsitzende des Ärztevereins Lüchow-Dannenberg am frühen Morgen
mit dem Rad, von 7.30 Uhr bis 19.00 ist er im Dienst - inklusive
Mittagspause und Hausbesuchen. «Vor 30 Jahren gab es in dieser Praxis
noch drei Ärzte, vor 20 noch zwei und ich bin übrig geblieben»,
berichtet er.  

Um die Region abzudecken, hat er sich 2014 mit einem Kollegen zu
einer Gemeinschaftspraxis zusammengeschlossen. Das Besondere: die
Dependance des zweiten Allgemeinmediziners liegt 25 Kilometer
entfernt in Gartow. Gemeinsam kommen sie nach Angaben von Niemann auf
durchschnittlich 250 Rezepte am Tag, jeder behandele etwa 80
Patienten und Patientinnen. Im Quartal betreuten sie zusammen rund
2500. Finanziell werde Hälfte/Hälfte gemacht: «Wir vertrauen und
teilen, es passt von der Art. Wir arbeiten gleich viel», berichtet
er. Viele ähnliche Modelle in der Umgebung seien gescheitert - es sei
fast wie in einer Ehe. 

An den beiden Standorten sind insgesamt zwölf Angestellte
beschäftigt, derzeit bildet das Duo einen Berliner Neurologen zum
Hausarzt aus, zuvor war es ein Intensivmediziner. Was ihn an der
vielen Arbeit in der abgelegenen Region reize? «Ich begleite Menschen
in allen Lebensabschnitten, ans Herz geht die Betreuung der Älteren.
Das ist eine schöne Aufgabe», erzählt Niemann. Oft müsse er neue
Patienten aus Kapazitätsgründen ablehnen, Mitglieder einer Familie
würden aber immer aufgenommen. Viele kämen auch mit psychologischen
Problemen. «Ich höre zu», sagt er. 2015 habe die Praxis einen
Flüchtling aus Afghanistan angestellt und vier Jahre zum
Fachangestellten ausgebildet, das habe unter einigen konservativ
eingestellten Einwohnern für Aufmerksamkeit gesorgt. 

Um mehr Ärzte aller Fachrichtungen anzulocken, hat die
Vermittlungsagentur Wendlandleben in Lüchow den kleinen Film «Wenn
Landärztin, dann Wendlandärztin» auf YouTube gestellt. Darin erzähl
en
vor allem junge Mediziner, wie gut es ihnen in der Region gefällt -
meist wegen der Vernetzung untereinander und des entschleunigten
Privatlebens. Lorenz von Pfister, Unfallchirurg an der
Elbe-Jeetzel-Klinik Dannenberg, zog aus Berlin nach Hitzacker. «Ich
fand, dass man hier besonders viel Wertschätzung erfährt. Das ist
anders als in der Stadt. In der Stadt ist man so austauschbar», sagt
er in dem Video. 

Karriere könne man auf dem Land allerdings nicht machen, heißt es
auch. «Oft ist es eine Stadtflucht. Wenn man es über hat, ist man
hier richtig. Man hat viel Lebensqualität», sagt Sigrun Kreuser von
der Agentur. Es gebe fast keine Branche, in der es keinen
Fachkräftemangel gebe. «In ländlichen Regionen brauchen wir Leute im

Bereich Bildung, Logistik und Handwerk.»  

Niedersachsenweit gebe es aktuell einen Bedarf von etwa 550
Hausärzten. «Wir brauchen mehr Ärzte und mehr Studienplätze», erk
lärt
Oliver Christoffers, Geschäftsführer der Bezirksstelle Lüneburg der
Kassenärztlichen Vereinigung. Besonders Medizinerinnen wollten nach
dem Studium in Teilzeit arbeiten. In Regionen wie dem Wendland sei
der Anteil der älteren Patienten zudem hoch. Doch: «Es gibt Zuzug,
wir haben Urlauber, die sich da niederlassen, weil es ihnen so gut
gefällt.» 

Der «Fulltime-Job mit Haut und Haaren», wie Niemann ihn nennt, lauge
auch aus. Wenn er nachts nicht schlafen kann, schreibt der
Freizeit-Autor an seinem neuesten Werk weiter. Mit seinem
Erfahrungsbericht «Patient Krankenhaus», in dem er seine sechs Jahre
in der Klinik als Assistenzarzt verarbeitet hat, tourt er immer noch
durch Deutschland. Am liebsten würde er mehr schreiben und seine
Sprechzeiten reduzieren, doch das rechne sich nicht. 

Wenn er abends seinen weißen Kittel auszieht, versucht er beim
Schwimmen und Radfahren abzuschalten. Seine fünf Kinder schätzen den
Reitstall und die drei Pferde auf dem heimischen Hof, einem
restaurierten Schulhaus. Deshalb Niemann will trotz der langen
Arbeitszeiten im Wendland bleiben: «Ich bin hier absolut richtig. Wir
leben im Nichts, es ist die totale Idylle.» Zehn Jahre wird er noch
durchziehen. «Ich bin jetzt hier und das Gleis endet auch hier.»