Tierisches Bewusstsein: Von Schmerz, Angst, Spiel und Selbsterkenntnis Von Alice Lanzke, dpa

Über das Bewusstsein von Tieren muss neu nachgedacht werden, fordert
eine breite Koalition verschiedener Wissenschaftler. Sie untermauern
ihre Thesen mit einer Reihe von tierischen Beispielen.

 

New York (dpa) - Haben Tiere ein Bewusstsein? Eine internationale
Koalition aus mehreren Dutzend Wissenschaftlerinnen und
Wissenschaftlern sieht zumindest eine «realistische Möglichkeit»
dafür - und hat die «New Yorker Erklärung zum Bewusstsein von Tieren
»
unterzeichnet. Deren Ziel ist, mehr Forschung hierfür anzuregen und
das Bewusstsein für Tierschutz zu stärken. 

Die Verfasser der Erklärung konzentrieren sich in ihrem Verständnis
von Bewusstsein auf Empfindungsvermögen. «Hier geht es um die Frage,
welche Tiere subjektive Erfahrungen haben können», schreiben sie.
Dazu könnten sensorische Erlebnisse - etwa bei einer bestimmten
Berührung oder beim Schmecken -  gehören, oder auch Erfahrungen, die

sich gut oder schlecht anfühlen, wie bei Freude, Schmerz und Angst. 

Es gebe starke wissenschaftliche Hinweise darauf, dass Säugetiere und
Vögel bewusst empfinden, heißt es in der Erklärung. Empirische Belege

deuteten zudem darauf hin, dass es für alle Wirbeltiere sowie für
viele wirbellose Tiere zumindest eine realistische Möglichkeit
bewusster Erfahrung gebe. Wenn diese aber bestehe, «ist es
unverantwortlich, diese Möglichkeit bei Entscheidungen, die dieses
Tier betreffen, zu ignorieren», schließt die Deklaration. 

Die Erklärung enthalte keine spezifischen politischen Empfehlungen
und unter den Unterzeichnenden gebe es ein breites Spektrum an
Ansichten zu moralischen, rechtlichen und politischen Fragen. «Einig
ist man sich darin, dass die Gewissheit über das Bewusstsein nicht
Voraussetzung für die Abwägung von Tierschutzrisiken sein sollte»,
heißt es. Wenn die realistische Möglichkeit bestehe, dass ein Tier
ein Bewusstsein habe - zum Beispiel, dass Kraken leiden können - dann
sollte diese Möglichkeit in politischen Kontexten berücksichtigt
werden. Also zum Beispiel bei Entscheidungen darüber, ob die
Krakenzucht unterstützt werden sollte.

Auf der Internetseite zu der Erklärung werden eine ganze Reihe von
Studien angeführt, welche Hinweise auf ein Bewusstsein von Tieren
liefern:

* In einer 2020 im Fachjournal «Science» veröffentlichten Studie
berichtete ein Team der Universität Tübingen, dass Krähen darauf
trainiert werden können, zu berichten, was sie sehen. Den Vögeln
wurde beigebracht, mithilfe ihrer Kopfbewegungen zu vermelden, ob
ihnen ein visueller Reiz gezeigt wurde oder nicht.

 

* Oktopusse meiden Schmerzen und schätzen Schmerzlinderung: Zu
diesem Ergebnis kam eine 2021 in «iScience» veröffentlichte Studie.
Im Experiment dafür mieden die Kraken eine Kammer, in der sie eine
Essigsäureinjektion bekommen hatten. Erhielten die Tiere in dieser
Kammer eine lokale Betäubung, entwickelten sie aber eine Vorliebe
dafür. «Bei einer Ratte oder einem Menschen würden wir aus diesem
Muster schließen, dass die Säureinjektion Schmerzen verursachte, die
durch das Lidocain gelindert wurden, so dass wir bereit sein sollten,
die gleichen Schlussfolgerungen für einen Oktopus zu ziehen», heißt
es auf der Seite der New Yorker Erklärung.

 

* Strumpfbandnattern scheinen sich in einer abgewandelten Form des
Spiegeltests selbst zu erkennen. Die Idee hinter dem Anfang der
1970er Jahre entwickelten Spiegeltest ist, herauszufinden, ob das
Testsubjekt über Selbstwahrnehmung verfügt. Dafür wird ihm eine
Markierung an einer Stelle des Körpers angebracht, die es nur im
Spiegel sehen kann, und dann das Verhalten beobachtet: Erkundet das
Testsubjekt die markierte Stelle am Körper vor dem Spiegel oder
versucht, sie abzureiben, gilt das als Beleg dafür, dass es sein
Spiegelbild als sich selbst erkannt hat.
Da sich Schlangen in erster Linie auf Gerüche verlassen, um sich in
ihrer Umgebung zurechtzufinden, nutzte die 2024 im Fachjournal
«Proceedings B» der britischen Royal Society veröffentlichte Studie
Wattepads, die mit verschiedenen Gerüchen getränkt waren: dem Duft
der Natter, ihren eigenen Duft mit der Markierung eines anderes
Duftes, den anderen Duft allein, den Duft einer fremden Schlange und
den Duft der fremden Schlange mit einer Markierung. Tatsächlich
untersuchten die Strumpfbandnattern ihren eigenen markierten Duft
länger als alle anderen, was darauf hindeute, dass die Tiere ihre
eigenen Gerüche erkennen und merken, wenn sich ihr Geruch verändert
hat.

 

* In einer 2022 in «Animal Behaviour» erschienenen Studie beschrieb
ein Forschungsteam unter britischer Leitung, dass Hummeln
spielerisches Verhalten an den Tag legen. So rollten die Insekten in
einem Versuch Holzkugeln auf eine Art und Weise, die mit fünf
Merkmalen des Spielens übereinstimmte. So hatte das Rollen der Kugeln
beispielsweise keinen offensichtlichen Zweck und trat verstärkt
zutage, wenn die Hummeln entspannt waren, was den Forschenden zufolge
darauf hindeutete, dass sie das Rollen angenehm fanden.

 

* Gleich drei Studien, die zwischen 2014 und 2017 in verschiedenen
Fachjournalen veröffentlicht wurden, zeigten zum einen, dass
Flusskrebse «angstähnliche» Zustände verspüren können - sei es
in
Situationen, in denen sie Lichtreizen oder Elektroschocks ausgesetzt
waren, oder aber nach Kämpfen mit Artgenossen. Zum anderen reagierten
die Tiere auf angstlindernde Medikamente und legten derart behandelt
beispielsweise ihre Scheu vor einem hell beleuchteten Labyrinth ab.

 

* Gemeine Strandkrabben wägen gedächtnisabhängig ab, wenn sie vor
einer schwierigen Entscheidung stehen. Diesen Schluss zogen zumindest
zwei Forscher aus Großbritannien nach Experimenten mit den Tieren.
Für eine 2024 in «Animals» veröffentlichte Studie untersuchten sie,

wie die Strandkrabben ihre Abneigung gegen helles Licht gegen ihre
Abneigung gegen Stromschläge abwägen. So suchten die Tiere
normalerweise einen Unterschlupf auf, um dem hellen Licht zu
entkommen, zogen das Licht aber vor, wenn sie in der Vergangenheit in
diesem Unterschlupf einen Schock erlitten hatten. Ihre Entscheidung
hing den Forschern zufolge davon ab, wie intensiv der Schock war und
wie hell das Licht ist.