Charité-Arzt zu Haftstrafe verurteilt - «gezielt Leben verkürzt» Von Anne Baum und Marion van der Kraats, dpa

Nach dem Tod zweier Patienten kommt ein Arzt der Charité in Berlin
vor Gericht. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm Mord vor. So weit geht
das Gericht nicht, spricht den Arzt aber schuldig.

Berlin (dpa) - Der Arzt verlässt den Gerichtssaal zwar als freier
Mann und wirkt erleichtert - doch er ist zu vier Jahren Haft
verurteilt worden. Im Prozess um das Sterben zweier schwerstkranker
Patienten hat ihn das Landgericht Berlin am Freitag des Totschlags in
zwei Fällen schuldig gesprochen. Der Oberarzt der Berliner Charité
habe gegen geltende Regeln verstoßen. «Wir sind überzeugt, dass es
sich um eine gezielte Verkürzung des Lebens und damit eine Tötung
handelte», sagte der Vorsitzende Richter Gregor Herb.

Nach Überzeugung des Gerichts hat der 56-Jährige im November 2021 und
im Juli 2022 auf einer kardiologischen Intensivstation
einen Patienten und eine Patientin (beide 73) jeweils mit einem
überdosierten Narkosemittel getötet. Bei den Betroffenen habe es sich
zwar jeweils um «Todgeweihte» gehandelt, so der Richter. Es könne
auch sein, dass bei beiden «ein Umschalten von einer kurativen auf
eine palliative Behandlung angezeigt gewesen sei. Das Mittel Propofol
sei aber in einer Menge verabreicht worden, die bei Weitem das
übersteige, was im Rahmen einer therapeutischen Behandlung denkbar
sei. Auch sei so gut wie nichts dokumentiert, wie es in der
Palliativmedizin sonst üblich sei.

Gericht geht von minderschwerem Fall aus

Zudem habe der Arzt ohne Abstimmung mit Angehörigen gehandelt. Eine
Patientenverfügung habe nicht vorgelegen. Anders als die
Staatsanwaltschaft sah das Gericht keine Mordmerkmale. Vieles spreche
dafür, dass der Arzt «aus Mitleid und Zugewandtheit zu seinen
Patienten» gehandelt habe. Eine «lebensfeindliche Haltung» sehe das
Gericht nicht bei ihm. Es ging von einem juristisch minderschweren
Fall aus. Viele Kollegen hatten den 56-Jährigen als einen erfahrenen,
kompetenten und den Patienten zugewandten Menschen beschrieben. 

Das Gericht blieb mit seinem Urteil deutlich unter dem Antrag der
Staatsanwaltschaft. Diese hatte wegen Mordes in zwei Fällen eine
lebenslange Freiheitsstrafe für den Mediziner verlangt. Zudem
beantragte Staatsanwalt Martin Knispel, ein lebenslanges Berufsverbot
gegen den 56-Jährigen auszusprechen. Dafür sah das Gericht keinen
Grund. Man gehe davon aus, dass der Arzt nie wieder so handeln würde,
sagte Richter Herb. Mit dem Schuldspruch seien erhebliche berufliche
Folgen zu erwarten.  

 «Nicht jede Therapie ist Leidenslinderung. Daher ist es gut, dass
das Gericht bei Tötungsdelikten genau hingeschaut hat» kommentierte
der Vorstand der Deutschen Stiftung Patientenschutz, Eugen Brysch,
das Urteil. Wichtig sei jedoch, alle Sterbefälle des behandelnden
Mediziners auf ein eventuelles Muster zu überprüfen. 

Arzt seit August 2022 freigestellt

Der Oberarzt war von der Charité im August 2022 freigestellt worden.

Im Mai 2023 kam er in Untersuchungshaft. Ins Visier der Ermittler war
der 56-Jährige nach einem zunächst anonymen Hinweis einer jungen
Krankenschwester gekommen. Nach Charité-Angaben war dieser im Rahmen
einer Art Whistleblower-System mit Vertrauensanwälten eingegangen.
Dorthin können sich Beschäftigte der Klinik wenden, die etwa
Ungereimtheiten bemerken. Die Frau war die Hauptzeugin in dem Prozess
mit insgesamt mehr als 30 Zeugen und Sachverständigen. 

Mit dem Urteil setzte das Gericht den Haftbefehl außer Vollzug,
sodass der Arzt nach knapp einem Jahr in Untersuchungshaft zunächst
nicht zurück ins Gefängnis musste. Er muss sich zweimal wöchentlich
bei der Polizei melden, solange das Urteil nicht rechtskräftig ist. 

Verteidigung akzeptiert Urteil nicht 

Die Verteidigung kündigte an, Rechtsmittel einzulegen. Sie hatte auf
Freispruch plädiert. Das Verhalten ihres Mandanten sei nicht die
Ursache für den Tod der jeweils 73 Jahre alten schwerstkranken
Menschen gewesen, sagte Rechtsanwältin Ria Halbritter am Freitag in
ihrem Plädoyer. Beide Patienten hätten sich in einer «aktiven
Sterbephase» befunden. In so einer Situation sei es erlaubt, auf eine
palliative Therapie umzustellen. Sie warf der Staatsanwaltschaft vor,
einseitig ermittelt zu haben. 

Mediziner verlässt erleichtert das Gericht

Der Mediziner hatte die Vorwürfe im Prozess zurückgewiesen. Er habe
beiden zur Leidensminderung ein Sedierungsmittel verabreicht. Das sei
nicht in den Mengen erfolgt, wie sie in der Anklage genannt würden.
Er sei sich sicher, «das Leben der Patienten nicht verkürzt zu
haben», sagte der Arzt. Vorzuwerfen habe er sich nur, in den
angeklagten Fällen die Gabe von Propofol nicht dokumentiert zu haben,
erklärte er. Nach dem Urteil verließ er dem Anschein nach erleichtert
das Gericht. Er freue sich, endlich nach Hause zu kommen, sagte er
knapp. 

Mitangeklagt in dem Fall war eine Krankenschwester wegen Beihilfe zum
Totschlag in einem Fall. Gegen die 39-Jährige hatte das Gericht das
Verfahren nach viermonatigem Prozess gegen eine Geldauflage von 1500
Euro eingestellt. In ihrem Fall komme kein vorsätzliches Handeln in
Betracht, begründete das Gericht damals.