Der «Störenfried im Bundestag» Von Kristina Dunz, dpa
Lübeck/Geesthacht (dpa) - Der Wirt der «Marktklause» in Geesthacht
macht an diesem Nachmittag seine Kneipe zu. «Gysi gucken», ruft
Christian Barbarousis seinen Gästen zu. «Da geht es um meine
Zukunft», sagt der 28-Jährige und man weiß noch nicht, ob er das
positiv oder negativ meint für den Spitzenkandidaten der Linken für
die Bundestagswahl, Gregor Gysi. Barbarousis wurde in Geesthacht
geboren, nun hat er den Familienbetrieb in der 29 000 Einwohner-Stadt
in Schleswig-Holstein 30 Kilometer südöstlich von Hamburg übernommen
- auch bekannt durch das Atomkraftwerk Krümmel. Einige Gäste gehen
mit ihm rüber zum Rathausmarkt und Barbarousis kann kaum glauben, was
er dort sieht: «Hunderte Menschen - das haben wir nicht oft hier.»
Gysi spult bei seinem xten Auftritt die Forderungen seiner Partei
in 70 Minuten ab: Rücknahme der Rente mit 67, Hartz IV überwinden,
Einführung eines flächendeckendes Mindestlohns, mehr Bildung, mehr
Chancengleichheit für Kinder, gleiche Löhne und Renten in Ost und
West, Reform der Gesundheitsreform, Bundeswehr raus aus Afghanistan.
Barbarousis nickt skeptisch: «Wie finanzieren wir das? Das muss er
noch erklären.» Tut Gysi auch. Ist seiner Ansicht nach ganz einfach.
Die Vorschläge der Linken kosteten etwa 150 Milliarden Euro jährlich.
Das Geld müsse der Staat durch mehr Steuergerechtigkeit einnehmen.
Dazu gehöre die Einführung der Vermögens- und der Börsenumsatzsteue
r
- macht bis zu 190 Milliarden Euro, rechnet Gysi vor. Die
Menschenmenge klatscht, ein kleiner Terrier namens Amy kläfft laut
dazu. «Top», sagt Barbarousis. Nur sei Gysi in der falschen Partei.
Eine kleine Gruppe der Zuschauer gruselt es. Ein Mann hält ein
Pappschild hoch. Es geht um die DDR, die SED, die Stasi und politisch
Verfolgte. «Die Linke nutzt das Leid der kleinen Leute aus», sagt
Jürgen Kurt Wenzel und hält sein Schild fest. Er ist 62 Jahre alt und
berichtet, dass er «sechs Jahre im Zuchthaus bei den Kommunisten»
gesessen habe. Neben ihm steht Hartmut Chyba. In der DDR hatte er
Berufsverbot, erzählt er. Gerade war er zur Bühne gegangen und hat
Gysi entgegen geschleudert: «Stasi raus!». Gysi konterte: «Dann musst
Du einfach gehen.» Nun steht Chyba mit Tränen in den Augen da und
sagt: «Ich komme aus der Zukunft. Wir kriegen die wieder.»
Gysi und die Stasi - ein weites Feld. Seit bald 20 Jahren wehrt
sich der Jurist, der in der DDR erfolgreich deren Kritiker Rudolf
Bahro und Robert Havemann verteidigt hat, gegen Vorwürfe, er habe mit
der Staatssicherheit zusammengearbeitet. Gerade vor Wahlen und
Parteitagen kocht das Thema immer wieder hoch. Gysi wirkt da
mittlerweile dünnhäutig. «Ich habe einfach die Schnauze voll davon»
,
sagt er. Als er hört, dass der Zwischenrufer ein früherer DDR-
Häftling war, reagiert er betroffen. «Das tut mir leid. Mit ihnen
hätte ich geredet. Während einer Kundgebung kann man aber auf der
Bühne nicht wissen, wer einen beleidigt.»
Am Dienstagabend in Lübeck stellt der 61-Jährige seinen
persönlichen neuen Wahlkampfrekord auf. Eine Stunde und 30 Minuten
heizt er den Veranstaltungssaal an. Er nimmt die anderen Parteien
immer wieder auf die Schippe. Alles «Konsenssoße» - ein Lieblingswort
von Gysi auch an diesem Tag. Etwaige Hoffnungen auf eine
Regierungsbeteiligung der Linken im Bund, lässt er kaum aufkommen.
Die Linke sei der «Störenfried im Bundestag», der
«Korrekturfaktor». Das sei wichtig für das Land und solle erst einmal
so bleiben, auch wenn «meine arme Linke jetzt dafür kämpfen muss,
dass die SPD sich wieder resozialdemokratisiert». Aber solange das
nicht passiert sei, könne die Linke sowieso keine Koalition mit der
SPD im Bund eingehen. Das ist auch seit langem die Botschaft von dem
ehemaligen SPD- und jetzigen Linkechef Oskar Lafontaine, wie Gysi
Spitzenkandidat. Union, SPD, und Grüne seien sozialer geworden, weil
seine Partei den Finger in die Wunde lege, sagt Gysi. Nur bei der FDP
sei das aussichtslos - das Publikum ist begeistert.
Im Bund will die Linke ihr 8,7-Prozent-Ergebnis von 2005 auf mehr
als 10 Prozent steigern. Gysi hofft auf eine starke Fraktion im neuen
Bundestag, den Einzug in den Landtag von Schleswig-Holstein und eine
Regierungsbeteiligung in Brandenburg. In beiden Ländern finden
parallel zur Bundestagswahl am Sonntag Landtagswahlen statt.
Vor der Partei liegen noch gravierende Probleme: Ost- und
Westmitglieder sind noch nicht wirklich vereinigt, Richtungsstreits
über das noch zu erarbeitende Parteiprogramm gelten als sicher und
die Frage, wer neben Lafontaine 2010 Vorsitzender als Nachfolger von
Lothar Bisky wird, ist offen. Christian Barbarousis, der Wirt der
«Marktklause» in Geesthacht, hat sich von Gysi jedenfalls schon mal
inspirieren lassen: «Ab morgen gibt es Schnitzel mit Konsenssoße.»
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