Verschwiegenes Kapitel: Contergan-Kinder in Ostdeutschland Von Juliane Wienß, dpa
In der tragischen Geschichte des Medikaments Contergan gibt es ein
weitgehend unbeleuchtetes Kapitel: Auch in der DDR kamen
«Contergan-Kinder» zur Welt. Doch die Betroffenen bleiben im
Verborgenen - aus Scham und vielleicht auch aus Unwissen.
Berlin (dpa) - Das Medikament Contergan, unscheinbar und
rezeptfrei, war Anfang der 60er Jahre ein internationaler
Verkaufsschlager. Bis bekannt wurde, welch schreckliche Wirkung das
scheinbar harmlose Beruhigungs- und Schlafmittel auf ungeborene
Kinder haben konnte: Tausende Mütter, die die Arznei einnahmen,
brachten Babys mit schwersten Missbildungen zur Welt: verkürzte Arme
oder Beine, fehlende Finger. In der DDR war der Contergan-Wirkstoff
Thalidomid gar nicht zugelassen. Und doch wurden auch hier
«Contergan-Kinder» geboren. Das ostdeutsche Kapitel des
Arzneimittelskandals ist jedoch weitgehend unbeleuchtet geblieben.
Zwölf Fälle aus Ostdeutschland sind dem Bundesverband
Contergangeschädigter bekannt. «Meistens hatten die Mütter das
Medikament von West-Verwandten mitgebracht oder geschickt bekommen»,
sagt die Vorsitzende Margit Hudelmaier. Diese Zahl habe ihr die
Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) als Rechtsnachfolgerin der
DDR-Versicherung genannt. Sie könnte aber weitaus höher liegen.
Denn die DDR wusste um mehr «Contergan-Kinder», die innerhalb
ihrer Mauern zur Welt kamen. Allein 70 bis 80 Fälle seien den
Behörden im Jahr 1975 offiziell bekannt gewesen, ermittelte der
Berliner Allgemeinarzt Hermann Scherzer. Damals forschte er über die
Integration körperlich behinderter Jugendlicher. Sicher habe es aber
eine hohe Dunkelziffer gegeben. Die DDR-Krankenkasse unterstützte die
Opfer. Einige starben jedoch bereits als Kinder oder Jugendliche.
Weil das Medikament offiziell nicht auf dem Markt und die Einfuhr
verboten war, berührten die offenkundige Missbildungen in der DDR
jedoch ein Tabu. Mütter betroffener Kinder gerieten in Erklärungsnot.
«Jeder wird gut abgewogen haben, ob er in Kauf nimmt, sich zu der
Einnahme der Tabletten zu bekennen», beschreibt Hudelmaier die
Situation.
Arzt Scherzer sagt, dass sich viele Frauen das Schlafmittel selbst
in West-Berlin besorgten, als die Grenze noch offen war. Manchmal
hätten die Apotheken die Arznei kostenlos an DDR-Bürger abgegeben.
Erst rund drei Monate nach dem Mauerbau, am 27. November 1961, wurde
Contergan vom Hersteller Grünenthal vom Markt genommen.
Die DDR nutzte den Contergan-Skandal in der Bundesrepublik
unterdessen zur Stärkung ihres Feindbildes: So präsentierte eine
Ausstellung des Zollamts im Dezember 1961 Medikamente, die angeblich
in Westpaketen in den Osten geschmuggelt werden sollten - darunter
auch in Bonbonpapier gewickeltes Contergan. Jenseits der Propaganda
schien die DDR kein Interesse zu haben, die Bürger über das Schicksal
der Contergan-Opfer zu informieren. Auf Medienberichte sei er bei
seiner Forschung damals nicht gestoßen, sagt Allgemeinarzt Scherzer.
Für betroffene Eltern in der DDR muss diese Situation schwer
erträglich gewesen sein. Eine betroffene Mutter habe sich ärztliche
Gutachten über ihr Kind an die Waden geklebt, um sie unbemerkt bei
Westbesuchen über die Grenze zu bringen, berichtet
Verbandsvorsitzende Hudelmaier. So kämpften die Eltern noch vor der
Wende für die Anerkennung ihres Sohnes als Contergan-Opfer. Als die
Mauer fiel, zahlte die Conterganstiftung die Rente aus.
Die Stiftung hat nach eigenen Angaben selbst keinen Überblick
über die Zahl der Geschädigten aus der DDR. Der Geburtsort der
Leistungsempfänger sei nicht in der Datenbank vermerkt, sagt eine
Sprecherin.
Die Anerkennung als Contergan-Opfer ist für ostdeutsche Betroffene
auch nicht einfach. Neben der medizinischen Untersuchung muss
glaubhaft gemacht werden, dass während der Schwangerschaft eine
Thalidomidarznei der Firma Grünenthal eingenommen wurde, heißt es bei
der Conterganstiftung. Wer aber die Tabletten unter der Hand
geschenkt bekam, hat selten eine Rechnung oder ein Röhrchen, um das
zu belegen.
Ein weiteres Problem stellt sich laut Gernot Stracke vom Hamburger
Landesverband der Contergangeschädigten auf anderer Ebene: «Die
Betroffenen müssen erst einmal auf die Idee kommen, dass die Ursache
dafür Contergan sein könnte», sagt er - in einem Staat, in dem
Contergan offiziell gar nicht existierte.
# dpa-Notizblock
## Internet
- [Bundesverband Contergangeschädigter] (http://dpaq.de/mYnP3)
- [Conterganstiftung](http://conterganstiftung.de/)
## Orte
- [Bundesverband](Schwimmbadweg 33, 89604 Allmendingen)
- [Conterganstiftung] (Sibille-Hartmann-Straße 2-8, 50969 Köln)
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