Begleiten beim Sterben - Angst, Abschied und die Frage nach dem Sinn Von Sophia Weimer, dpa

Mechthild Schindler begegnet täglich Menschen, die sehr bald sterben
werden. Sie trifft sie bei sich zuhause - im persönlichen Umfeld.
Angst und Tod sind ihr Arbeitsalltag.

Berlin (dpa) - «Am Lebensende stellen sich die Menschen immer die
Sinn-Frage.» Mechthild Schindler folgt der Anweisung ihres
Navigationsgerätes und biegt rechts ab. Sie spricht gelassen und
freundlich in rheinischem Singsang.

«Das Thema, wo gehe ich hin, wo komme ich her, was hat mich
getragen im Leben, was hat mich bewegt - das hat kurz vor dem Tod oft
oberste Priorität», sagt die 54-Jährige. Das etwas klapprige
Hospiz-Auto rattert über das Kopfsteinpflaster. Schindlers
dunkelblonde Haare wippen leicht mit. Sie trägt viel violett - die
Farbe, die als empfindsam und intuitiv gilt.

Seit 30 Jahren ist sie Krankenschwester, für Hospize arbeitet sie
seit 10 Jahren. Zunächst im Rheinland - wo sie herkommt - dann folgte
sie vor eineinhalb Jahren ihrem Mann nach Berlin. Dort begleitet und
berät sie Sterbenskranke für das ambulante Ricam Hospiz und
koordiniert den Einsatz der ehrenamtlichen Helfer. Mit konzentriertem
Blick durch die randlose Brille parkt sie ein.

Michael Schulte steht in seinem sonnendurchfluteten, blitzblanken
Wohnzimmer in Berlin-Neukölln. Weißes Feinripp-Unterhemd, schwarze
Jogginghose, Adiletten. Sein Händedruck ist fest, fast schmerzhaft.
Er ist unruhig, spricht hektisch, gestikuliert. Er braucht keine
Hilfe. Einfach jemanden der kommt, wenn er mal zwei Stunden weg muss.
Im Arbeitszimmer nebenan steht seine Modellauto-Sammlung. In dem
neuen Pflegebett liegt seine Frau.

Karin Schulte hat Brustkrebs. Seit ein paar Monaten sind die
Metastasen auch im Gehirn, seit Weihnachten kann sie nicht mehr
laufen. Sie spricht so gut wie gar nicht mehr. «Meistens schläft
sie», sagt ihr Mann. Er kümmert sich Tag und Nacht um sie. «Ich hab
Plastikblumen aufgestellt, dann sieht es ein bisschen aus wie
früher.»

Mechthild Schindler sitzt an dem runden Holztisch und hört ihm zu.
An den Wänden um sie herum hängen Kunstdrucke und Fotos aus besseren
Zeiten. Die Schultes mit Freunden, vor einem Planwagen oder am
Strand. Schindler hat eine Ehrenamtliche organisiert, die Schulte
etwas entlasten soll. Wenn er weg muss, kann er die anrufen - denn
seine Frau für ein paar Stunden alleine lassen, das möchte er nicht.
Die beiden sprechen über die neue Ärztin, Rechnungen von der
Krankenkasse und Schultes neuen Alltag. Als sie sich verabschiedet,
wirkt er erleichtert. Er wird die Ehrenamtliche anrufen, sagt er.

Das Navi befiehlt: links halten. Schindler erzählt, dass sie lange
auf der Intensivstation gearbeitet hat. «Die Art, wie dort gestorben
wird, war für mich mitunter sehr belastend», sagt sie. Zu Hause hat
sie ihre Schwester betreut, die an Brustkrebs gestorben ist. «Da habe
ich mir oft vorgestellt, wie schön es wäre, wenn jemand an meiner
Seite wäre. Das war der letzte Anstoß zu sagen, jetzt gehe ich doch
mal einen anderen Weg.» Nachdem sie ihre Arbeit in einem stationären
Hospiz begonnen hatte, habe sie das Gefühl gehabt, angekommen zu
sein.

Es komme häufig vor, dass Patienten Entscheidungen im Leben
bereuen. Manche hätten sich lieber für einen anderen Partner
entschieden, andere zweifelten an ihrer Berufswahl. «Aber das ist ja
müßig. Man weiß ja nicht, wie der andere Weg ausgesehen hätte.»

Umso mehr habe sie gelernt, jeden Tag zu nutzen. «Manchmal wenn
ich nach Hause gehe, denke ich: Danke Gott, dass ich leben darf. Dass
ich meine Kinder, meinen Mann, meine Arbeit erleben darf.» Es ist ihr
wichtig, privat auch etwas ganz anderes zu machen: «Mein Mann und
ich, wir tanzen gern.»

Das Brummen der Sauerstoffmaschine ist in der ganzen Wohnung zu
hören. Die Schläuche reichen vom Wohnzimmer über den Flur bis ins
Schlafzimmer. Aus dem Radio in der Küche schallt «Holding out for a
hero» von Bonnie Tyler. Chilbert Schneider liegt in seinem Bett, die
Schläuche enden in seiner Nase. Sein Atem rasselt, die Chemotherapie
hat seinen Körper völlig ausgelaugt. Der 72-Jährige wiegt nur noch 50

Kilo. «Ach, et macht kein` Spaß», sagt er mit Tränen in den Augen.

Mechthild Schindler sitzt auf einem Stuhl neben seinem Bett: «Nein,
Herr Schneider, das macht keinen Spaß. Ich weiß.»

Der Arzt hat ihm noch sechs Monate gegeben. Schindler schlägt ihm
vor, in ein stationäres Hospiz umzuziehen. Vor kurzem war Schneider
noch dagegen, doch jetzt kann er kaum noch aufstehen. Er möchte so
schnell wie möglich nicht mehr allein sein. Aber die Plätze sind rar.
Schindler zeigt ihm Fotos vom Ricam Hospiz. «Dit jefällt mir», sagt
Schneider, bei dem im vergangenen November Lungenkrebs diagnostiziert
wurde.

Nehmen Sie die Ausfahrt, klingt es aus dem Navi. Mechthild
Schindler lenkt den Wagen auf die rechte Spur und blinzelt in die
Sonne. «Die meisten Patienten erklären sich mit dem Tod
einverstanden, aber die Angehörigen bleiben zurück», erzählt sie.

Die Zeit des Vorbereitens sei für viele wichtig: «Man selber
möchte vielleicht tot umfallen, aber für Familie und Freunde ist das
anders. Ich denke, es ist nicht das Schlechteste, Zeit für Abschied
zu haben.»

Die meisten der Patienten haben Krebs. Anna Fuchs lässt sich von
ihrer Tochter eine Zigarette anzünden. Ihre Arme sind zu schwach. Sie
hat ihr ganzes Leben lang geraucht. Vor ein paar Monaten bekam sie
die Diagnose Hirntumor. Die Diabetes macht alles noch schwerer. Anna
Fuchs ist stark übergewichtig, in ihrem grauen Schlafanzug kann sie
sich kaum bewegen. Ihre Tochter stapelt graue Zigarettenschachteln
der Marke Viceroy auf der gekachelten Tischplatte im Wohnzimmer.

Die beiden Frauen sitzen mit der Hospiz-Mitarbeiterin zwischen
Pflegebett und apricot-farbenen Gardinen. Die Tochter wohnt direkt
gegenüber, ist ständig bei ihrer kranken Mutter. «Ich wollte sie nie

pflegen, weil ich wusste, ich würde kein Leben mehr haben. Jetzt ist
es so. Ich hab kein Leben mehr.» Schindler nickt, schlägt den Umzug
ins Hospiz vor. Die Tochter ist unsicher, die Mutter dagegen. Eine
weitere Tochter, die nicht da ist, wolle davon nichts hören.

Mit ihrer ehrenamtlichen Helferin vom Hospizdienst sind beide
zufrieden. Erst am Dienstag hätten sie mit ihr zusammen geweint vor
Glück - da hat der Enkel einen Ausbildungsvertrag bekommen.

Mechthild Schindler stoppt an einer roten Ampel und packt das Navi
ins Handschuhfach. Das Ricam Hospiz ist nur noch einige hundert Meter
entfernt. Hier wartet schon Salomo Shifrin auf sie. Die beiden kennen
sich außergewöhnlich lange - Shifrin lebt bereits seit einem Jahr im
Hospiz. Das ist länger als alle anderen Bewohner.

«Als er zu uns kam, war er sehr schwach und kam sehr schlecht
zurecht», sagt Schindler. Doch dann habe er sich etwas erholt, der
Krebs der Bauchspeicheldrüse schien langsamer voranzuschreiten. «Es
ist wie ein kleines Wunder, wir können uns das alle nicht erklären.»


Schwungvoll parkt sie ein, trägt die Kilometerzahl ins Fahrtenbuch
ein, nimmt ihren schwarz-violetten Rucksack und betritt den
Hospiz-Flur im fünften Stock. Salomo Shifrin sitzt vor seinem Zimmer,
durch die großen Fenster scheint die Sonne herein. Als er die Frau
sieht, steht er mit wackeligen Beinen auf. Eine Hand klammert sich an
den Rollator, mit der anderen drückt er Mechthild Schindler an sich:
«Wie schön, dass Sie gekommen sind.»

# dpa-Notizblock

## Redaktionelle Hinweise
- Dazu erhalten Sie bis 1100 noch einen Hintergrund - ca. 15 Zl
- Die Namen der Patienten und ihrer Angehörigen wurden zum Teil
geändert.

## Internet
- [Ambulanter Dienst vom Ricam Hospiz](http://dpaq.de/hgxdK)
- [Deutsche Hospizstiftung](http://dpaq.de/scJTt)
- [Infos zu ambulanten Hospizdiensten](http://dpaq.de/66OWf)

## Orte
- [Ricam gemeinnützige Gesellschaft für Lebenshilfe und
Sterbebegleitung mbH](Delbrückstraße 22, 12105 Berlin)

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