«Generation Zeitvertrag» - Der mühsame Weg der Berufseinsteiger Von André Stahl und Günther Voss, dpa
Zeitverträge sind für Berufseinsteiger inzwischen gang und gäbe.
Knapp die Hälfte aller Neueinstellungen ist befristet. Betroffenen
bleibt die Hoffnung auf Festanstellung - oft ist sie trügerisch.
Berlin (dpa) - Sie hat Kultur- und Wirtschaftswissenschaften
studiert, spricht drei Fremdsprachen, war drei Jahre lang
Praktikantin im Ausland und qualifiziert sich nebenbei noch weiter:
Trotzdem hangelt sich die junge Frau seit fünf Jahren von einem
befristeten Job zum nächsten. Die 33-Jährige, die anonym bleiben
möchte, gehört zum guten Drittel junger Akademiker in Deutschland,
die von einer sicheren, unbefristeten Beschäftigung nur träumen
können - trotz gut laufender Konjunktur und Beschäftigungsbooms.
Als vor Jahren von der «Generation Praktikum» die Rede war, wurde
das als Übergangsproblem einer eher kleinen Gruppe von
Hochschulabsolventen abgetan. Es ist inzwischen aber fast normal,
dass Berufseinsteiger erst mal nur befristet in Arbeit kommen. Auf
fast jeden dritten jungen Akademiker in Deutschland (29,0 Prozent)
trifft dies zu. Die 33-Jährige gehört auch dazu - und fühlt sich
veräppelt. Und: Sie kennt niemand in ihrem Freundeskreis mit einem
normalen, unbefristeten Job.
Dabei steuert Deutschland auf annähernde Vollbeschäftigung zu. Im
Mai sank die Zahl der Arbeitslosen wieder unter die psychologisch
wichtige Marke von drei Millionen. Beim Start der Hartz-IV-Reform
Anfang 2005 waren mehr als fünf Millionen Menschen ohne Job. Der
deutliche Rückgang seither ist Ergebnis der Reformen am Arbeitsmarkt:
Sie brachten flexiblere Beschäftigungsverhältnisse - und mehr sozial
schlecht oder gar nicht abgesicherte Verträge.
Ein Verfallsdatum trug 2011 jeder elfte Arbeitsvertrag - neun
Prozent aller Beschäftigten über 25 Jahren (EU-Durchschnitt: knapp 11
Prozent). 1991 lag diese Quote in Deutschland laut Statistischem
Bundesamt erst bei 5,8 Prozent. Bei Berufseinsteigern fallen die
Befristungs-Anteile weit höher aus - besonders im staatlichen
Bereich. 80 Prozent der 25 bis 29 Jahre alten Akademiker, die 2011 an
einer Universität, Akademie, Fach- oder Verwaltungshochschule
beschäftigt waren, hatten nur einen Zeitvertrag.
Deutlich besser sieht es in der Wirtschaft aus: Bei Finanz- und
Versicherungsdienstleistern waren im Schnitt 7,0 Prozent junge
Akademiker befristet beschäftigt, im verarbeitenden Gewerbe 11,4
Prozent - in der öffentlichen Verwaltung immerhin 29,2 Prozent. Im
Schnitt aller Erwerbstätigen dieser Altersgruppe - Akademiker und
Nicht-Akademiker - traf das laut offizieller Statistik nicht mal auf
jeden Sechsten (17,2 Prozent) zu.
Eine Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsbildung
(IAB) aus dem vergangenen Jahr ergab, dass der Anteil befristeter
Neueinstellungen zwischen 2001 und 2011 von 32 auf 45 Prozent stieg.
Auf diesem Niveau hat sich das Phänomen in den letzten Jahren
eingependelt. Damit läuft fast jede zweite Neueinstellung über einen
Zeitvertrag.
Das gewerkschaftsnahe WSI-Tarifarchiv fand bei 4300 Befragten
heraus, dass 34 Prozent der Jung-Akademiker mit bis zu einem Jahr
Berufserfahrung einen Zeitvertrag bekommen hatten. Dies macht sich
auch beim Gehalt bemerkbar: Mit im Schnitt 2940 Euro monatlich hinken
die Betroffenen beim Einkommen den unbefristet beschäftigten Kollegen
um etwa ein Fünftel hinterher. Der Einkommensrückstand fällt mit 38
Prozent im Einzelhandel besonders deutlich aus, gefolgt vom Bereich
Ver- und Entsorgung (24 Prozent).
Für den WSI-Tarifexperten Reinhard Bispinck ist die Entwicklung
besorgniserregend. «Wenn bis zu 80 Prozent der Hochschulabsolventen
als Einstieg nur einen befristeten Arbeitsvertrag bekommen, dann ist
das ein Alarmzeichen. Die Politik ist dringend aufgefordert, die
Spielräume für die Befristung von Arbeitsverträgen einzuschränken.
Und die öffentlichen Arbeitgeber selber sollten hier mit gutem
Beispiel vorangehen.»
Praktikum und befristete Beschäftigung gehen nicht selten Hand in
Hand. Kritiker sehen darin eine trickreiche Verlängerung der
Probezeit - zulasten der Betroffenen. Die beträgt bei einer
Festanstellung üblicherweise sechs Monate. Gewerkschafter sprechen
vom «Abbau des Kündigungsschutzes durch die Hintertür».
Bei Schwangerschaft, Elternzeit- oder Krankheitsvertretung ist von
einer «Befristung mit Sachgrund» die Rede. Arbeitgeber weichen bei
Ersteinstellungen nach Meinung von Kritikern aber immer häufiger ohne
konkrete Begründung auf Verträge auf Zeit aus. Solche sachgrundlose
Befristung bei ein und demselben Arbeitgeber darf höchstens für zwei
Jahre vereinbart werden. Verträge mit kürzerer Laufzeit können
dreimal verlängert werden, bis die zwei Jahre ausgeschöpft sind. 1996
machte die Regierung unter Helmut Kohl (CDU) auch Befristungs-Ketten
möglich, was aber von Rot-Grün 2001 mit dem Teilzeit- und
Befristungsgesetz wieder revidiert wurde.
Viele Firmen nutzen offenbar die gesetzlich erlaubten zwei Jahre
und lassen Neulinge vor der Übernahme regelrecht zappeln, wie auch
die 33-Jährige findet: Ihr wurde im Anschluss an einen befristeten
Job angeboten, in der Firma zu bleiben - allerdings für das gleiche
geringe Geld von 1500 Euro. Da meldete sie sich lieber arbeitslos:
«In meiner Generation sind befristete Jobs schon so normal, dass man
sich gar nicht mehr wundert», sagt sie resigniert.
Für Gewerkschaften ist klar: «Sachgrundlose Befristungen gehören
abgeschafft», sagt Annelie Buntenbach, im DGB-Bundesvorstand für den
Arbeitsmarkt zuständig. «Sie führen dazu, dass Beschäftigte keine
Chance haben, sich eine halbwegs sichere Perspektive für Beruf,
Familie und Kinder aufzubauen. Das gilt sogar für den Wohnort, denn
man weiß nie, wo man als nächstes landet.»
Die Arbeitgeber sehen das anders, wollen von einer «Generation
Praktikum» oder einer «Generation Zeitarbeit» keineswegs sprechen.
«Eine "Generation Befristung" gibt es nicht» heißt es beim
Arbeitgeberverband BDA. Für dessen Präsidenten Dieter Hundt sind
Zeitverträge sogar ein Glücksfall: «Befristete Arbeitsverhältnisse
sind eine gute Einstiegsmöglichkeit für Berufsanfänger und
Langzeitarbeitslose.»
Von zunächst befristet Beschäftigten wird laut IAB inzwischen mehr
als jeder zweite (56 Prozent) in eine unbefristete Festanstellung
übernommen. 2005 waren es nur 39 Prozent, im Krisenjahr 2009 etwa 45
Prozent. «Über die Hälfte der Neueinstellungen erfolgt unbefristet»
,
hat das IAB im Februar 2012 herausgefunden. Hundt sieht deshalb die
Entwicklung nicht als problematisch an: «Der Anteil befristeter
Arbeitsverhältnisse liegt seit Jahren konstant bei unter zehn
Prozent.»
Die Zahlen zeigen: Es ist vor allem der Staat, der seine
Bediensteten in Zeitverträge drängt. Um dem «Missbrauch mit
Befristungen» einen Riegel vorzuschieben, fordern nicht nur die
Gewerkschaften ein Ende der sogenannten sachgrundlosen Befristung.
SPD und Grüne haben sich die Forderung ebenfalls zu eigen gemacht -
und wollen sie umsetzen. Den Wahlsieg im Herbst vorausgesetzt. Dann
wären Zeitverträge grundsätzlich nur noch im Rahmen einer
Vertretungsregelung zulässig.
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