Was Pflegebedürftige brauchen - Einblick in Momente von Not und Glück Von Basil Wegener und Britta Pedersen

Wo stößt die Pflege in Deutschland heute an ihre Grenzen?
Erschütternde Einblicke und Momente der Hoffnung bei Besuchen von
Betroffenen - die Spannbreite zwischen Not und Glück ist groß.

Berlin (dpa) - Ein Schrei wie aus einer anderen, dunklen Welt tönt
durch den zartrosa gestrichenen Flur mit Blumenbildern. Ein
unverständliches Wortfragment. Dann ist es wieder still. Hinter den
offenen Türen einiger Zimmer liegen Pflegebedürftige auf dem Rücken
in ihren Betten. An den Decken sind gebastelte Dekorationen zum
Hingucken angebracht. Viel ist die Rede von Notstand und Mangel in
der Pflege in Deutschland. Union und SPD haben eine große Reform
versprochen, mehr Betreuung, mehr Hilfe für die immer zahlreicheren
Demenzkranken. Was brauchen Pflegebedürftige?

In dem Flur mit den Blumenbildern nähert sich langsam eine alte
Frau in einem Walker, einem Gestänge zum Festhalten auf Rollen. Sie
stößt leise Laute aus. Beim Vorbeigehen streicht ihr eine Pflegerin
über den Arm. Es ist die Etage fünf des Evangelischen Seniorenheims
Albestraße in Berlin. Hier leben die Bewohner mit fortgeschrittener
Demenz. Geschäftsführerin Silvia Gehrmann erklärt, das Heim habe ein

gemeinschaftliches Wohnkonzept. Die schweren Fälle seien auf einem
Stock, die anderen Bewohner könnten nicht immer die nötige Toleranz
aufbringen. Wer körperlich beeinträchtigt ist, leichter oder schwer
dement, braucht demnach ein Stück Abstand von anderen. Gehrmann: «Das
Ziel ist es, stressfrei zu leben.»

Eine Etage tiefer. Elisabeth Schulze sitzt auf ihrem Bett.
Unablässig putzt die 88-Jährige mit einer unbenutzten Windel die
Hülle einer CD. Am Tischchen in ihrem Zimmer sitzt ihre Tochter,
Dietlind Kirsch-Tietje. «Da ist eine CD drin», sagt die 65-Jährige.
Die demenzkranke Mutter guckt sie fragend an. «Musik», erklärt die
Tochter. Die Mutter wirkt nicht so, als hätte sie verstanden.

«Manchmal denke ich, man sollte einen Deckel aufmachen können und
gucken, wie es ihr geht», sagt die Tochter. «Aber das kann man bei
der Krankheit nicht.» Zwei Monate zuvor ist Elisabeth Schulze
hergekommen. Lange hatte sie trotz beginnender Demenz noch alleine
gewohnt. «Dann ist sie gefallen und lag die ganze Nacht am Boden»,
erzählt die Tochter. Für den anschließenden Krankenhausaufenthalt hat

Dietlind Kirsch-Tietje nur ein Wort übrig: «Horrortrip.» Richtig
gekümmert habe man sich nicht um ihre Mutter. Die Demenz wurde
schlimmer. Wieder daheim reichte die Betreuung von Familie, Helfern,
Nachbarn bald nicht mehr. Sie brauchte einen Pflegeplatz.

Drei Heime und zwei Einrichtungen mit betreutem Wohnen hätten sie
angesehen. Auf Pflegenoten vertraute Kirsch-Tietje nicht. «Man weiß
ja, wie solche Listen gemacht werden.» Die Entscheidung für das
Evangelische Seniorenheim erfolgte per Bauchgefühl. Zwei Jahre
Wartezeit hieß es zuerst - bis auf einmal doch ein Platz frei wurde.
«Meine Mutter wollte nicht, wir haben gesagt: Es ist nur für eine
Woche.»

Und heute? Dietlind Kirsch-Tietje bereut die Wahl nicht und will
niemandem im Heim Vorwürfe machen. Aber: «Wir wissen nicht, ob meine
Mutter nicht unglücklich ist in ihrem Zimmer.» In den
Gesellschaftsraum will sie nicht gehen. «Sie hat Angst vor lauten
Stimmen und zu vielen Leuten.» So resolut Kirsch-Tietje ist, blickt
sie nun doch ratlos durch den Raum: «Auch hier kommen die Pfleger an
ihre Grenzen.» Es fehle die Zeit. Sie hat das Gefühl, dass die alten
Menschen mehr Pflegekräfte bräuchten - doch dann wäre ein Platz wohl

unbezahlbar, meint Kirsch-Tietje. Der Eigenanteil ist ohnehin hoch.

Die Pflegeversicherung deckt nur einen Teil der Kosten, das gehört
zum Prinzip. Die Einstufung in eine der drei Pflegestufen entscheidet
sich nach Begutachtungen des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen
(MDK). Das gilt auch für die Pflege zu Hause. Zwei von drei
Pflegebedürftigen werden in Deutschland daheim gepflegt - welche
Hilfen und Bedürfnisse gibt es hier?

Anja Zellmann nimmt uns mit auf eine Tour. Die 43-Jährige arbeitet
seit zwölf Jahren als Gutachterin für den MDK. Als erstes besucht die
gelernte Krankenschwester Anke K.. Es ist ein erschütternder Fall.
Anke K. ist erst 46 Jahre alt, sie hat Krebs im Finalstadium, wie
Zellmann berichtet.

Werder in Brandenburg, 8.30 Uhr am Morgen. Ein Häuschen in einer
aufgeräumten Eigenheimsiedlung. Es ist kalt. Zellmann klingelt. Nach
einer halben Minute öffnet sich langsam die Tür. Anke K. hat den
Besuch erwartet. Sie bittet mit sanftem Lächeln herein und geht
vorsichtig ins Wohnzimmer. Das sauber geputzte Heim einer
Kleinfamilie, in der Ecke liegt ein Mops. Anke K. setzt sich aufs
Sofa, Zellmann nimmt gegenüber Platz und klappt ihren Laptop auf den
Oberschenkeln auf.

Zellmann hat schon einige Informationen, jetzt fragt sie nach den
Ärzten der Kranken und ob sie ihre Medikamente selbst vorbereiten
kann. «Größtenteils ja, außer die Morphiumspritzen, die bereitet me
in
Mann zu.» Zellmann tippt in ihren Computer. Der Mops erhebt sich und
wedelt leicht mit seinem Schwanz. «Wie viel Zeit wendet Ihr Mann für
die Pflege auf?» Anke K.: «Eine Stunde wenigstens.» Zellmann möchte

wissen, wie viele Stufen die Treppe ins Obergeschoss habe. Das hat
Anke K. noch nicht gezählt. «Ich gehe mit meinem Mann hoch, noch geht
das. Zur Not kann ich auf allen Vieren hoch, wenn es mir schwindelig
wird.»

Sieben Monate vorher war die Welt von Anke K. noch in Ordnung.
Dann entdeckten Ärzte ein Karzinom. Nach einer Operation schien das
Schlimmste überstanden. Doch die erste Nachuntersuchung brachte eine
viel schlimmere Diagnose: unheilbarer Krebs im Bauchfell. Eine
Chemotherapie hätte wohl nur Leid gebracht. Anke K. weint. «Was wäre

das für eine Zeit gewesen, die ich gewinne? Da haben wir gesagt, dass
ich mich nur noch palliativ behandeln lasse.»

Zellmann bleibt nüchtern: Eine solche Behandlung zur
Symptom-Milderung der tödlichen Krankheit zu Hause sei möglich. Es
komme auch auf die Umstände im Haus an, auf die Treppe, das Bad. Die
Gutachterin fragt weiter. Anke K. frühstückt morgens noch mit Mann
und Kindern. Mit brüchiger Stimme kommt sie auf den Schicksalsschlag
zurück. Noch sechs bis zwölf Monate bleiben ihr laut ihren Ärzten.
Was braucht die Frau an Pflege? «Uns ist wichtig, dass wir die wenige
Zeit, die wir haben, entlastet werden.»

Das Gutachten wird Zellmann schnell schreiben, nach einer Woche
wird die Krankenkasse die Pflegestufe mitteilen. Der Pflegebedarf ist
wohl eher gering, wie die Gutachterin später sagt. Noch sei Anke K.
recht selbstständig. Pflegestufe 1 - monatliche Sachleistungen für
einen Pflegedienst von 450 Euro etwa - erhält, wer 46 Minuten
Grundpflege braucht. Es zählen Waschen, Zahnpflege, An- und
Ausziehen, Treppensteigen oder Zubereiten und Aufnahme der Nahrung.
«Es ist eine Rechenaufgabe», sagt Zellmann. Die Gutachterin arbeitet
immer ähnlich - die Schicksale der Pflegebedürftigen sind vielfältig

wie das Leben. Sie setzt sich in ihr Auto und fährt zum nächsten
Fall.

Ein Plattenbau aus DDR-Zeiten, Peter G. wohnt mit seiner Frau in
einer kleinen Wohnung. Auch der erwachsene Sohn Matthias ist da, als
Zellmann klingelt. Er lebt in einer anderen Wohnung im selben Haus.
Seit fünf Jahren kümmert er sich mit um seinen Vater. Die Familie
bietet Kaffee an und Gebäck. Peter G. sitzt in einem braunen Sessel.

Er ist Bluter, Blut gerinnt nur langsam. Er hatte einen
Schlaganfall, Operationen, leidet unter Diabetes, hat einen
künstlicher Darmausgang. Zellmann stellt ihre Fragen. Kann er alleine
sein Gesicht waschen, den Rücken? «Da komm' ich nicht mehr hin», sagt

Peter G.. Leise klappert die Tastatur von Zellmanns Laptop. Was
könnte Peter G. gebrauchen? Einen Badewannenlift zum Beispiel. Doch
der passt nicht ins kleine Badezimmer. Ein Umbau würde bis zu 7000
Euro kosten. Die Kasse würde 2500 Euro zahlen.

Erst allmählich wird das Ausmaß von Peter G.s Beeinträchtigungen
deutlich. Zellmann fragt: «Wie alt sind Sie?» Er wiederholt: «Wie alt

bin ich?» - «Sind Sie denn schon über 60?» Er bejaht. «Sind Sie d
enn
schon über 70?» Das weiß Peter G. nicht. «Ich will Sie gar nicht
länger quälen», sagt Zellmann, «ich will's Ihnen verraten: Sie sind

71.» Ohne seine allerdings auch nicht mehr gesunde Frau und seinen
Sohn wäre Peter G. ziemlich aufgeschmissen.

Die Gutachter müssen routiniert sein, die Zeit ist knapp. «Zum
Rechts- und Linksgucken, reicht es nicht», sagt Zellmann. In
schneller Fahrt geht es über kleine Straßen weiter. Ein altes
Häuschen am Rand von Potsdam zwischen Bäumen, eine kleine Dachwohnung
mit Kachelofen und Blick auf die Havel.

Die Bewohnerin der Wohnung heißt Herta Kapust und ist 102 Jahre
alt. Die hochbetagte Dame bekommt wie selbstverständlich liebevolle
Betreuung von ihrem Sohn. Sie kann kaum noch laufen, ist fast blind -
aber im Kopf noch wendig und witzig. Zur Begrüßung bedankt sich Herta
Kapust bei Zellmann sofort für ihr Pflegebett: «Meine Wohnung ist
jetzt das Bett.»

Draußen geht das Grau des Himmels ins Blaugrau des Wassers über.
Der Sohn erzählt, warum die alte Dame immer noch in der Wohnung lebt,
die von einer vergangenen Zeit übriggeblieben scheint. «Als sie 80
war, da haben wir gedacht: Umziehen lohnt sich nicht mehr.» Er kommt
jeden Tag, kocht, holt die Asche aus dem Ofen, unterhält sich mit der
Mutter, macht den Toilettenstuhl sauber.

Die Mutter kann ihre Gäste kaum erkennen, beim Gespräch ist sie
dabei. «Na ja, ich hab's mir nicht ausgesucht», sagt sie lakonisch,
«ich habe nie gedacht, dass sich das so in die Länge zieht.» Doch die

steinalte Frau und ihr Sohn strahlen ein ruhiges Glück aus. Zellmann
fragt, ihre Tastatur klappert. Eine Wanduhr tickt. Eine Pflegerin
eines ambulanten Dienstes sitzt dabei. Bald wird die Krankenkasse
mitteilen, ob es eine höhere Pflegestufe wird. Es könnte sein, dass
mehr Leistungen als bisher bezahlt werden.

Zurück im Evangelischen Seniorenheim Albestraße. Die demenzkranke
Seniorin Elisabeth Schulze hat eine Tasse Kaffee an ihr Bett
bekommen. Auch ihre Tochter Dietlind Kirsch-Tietje hat eine Tasse vor
sich stehen. Es könnte gemütlich werden.

Doch die Mutter will nicht gleich trinken. Die Tochter sagt:
«Kaffee, guck', das ist Kaffee zum Trinken.» Die Mutter nimmt die
Tasse, blickt die Tochter fragend an und hält den Kaffee mit
ausgestrecktem Arm in die Luft. Es ist ein Ausdruck von
Fürsorglichkeit der demenzkranken Frau. «Sie will mir den Kaffee
anbieten», erklärt Kirsch-Tietje. «Sie war ihr ganzes Leben lang so
lieb, das verstärkt sich jetzt.» Was brauchen Pflegebedürftige? Für

Dietlind Kirsch-Tietje gehört dazu auch, dass die Großherzigkeit
ihrer Mutter am Ende noch zur Geltung kommen kann - und jemand da
ist, der die Gesten richtig versteht.

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