Folgenreiche Sprechstörung: Gegen Stottern gibt es keine Wunderpille Von Annett Stein, dpa

Peinlichkeiten, Niederlagen, Kränkungen: Stotternde haben nicht nur
mit ihrer Stimme, sondern auch mit Reaktionen von Mitmenschen zu
kämpfen. Umso stärker hoffen sie auf Therapien - zumindest bei
Erwachsenen geht es dabei um Besserung, nicht um Heilung.

Berlin (dpa) - Der Blick wendet sich verlegen ab, bei der ersten
Chance sucht der Gesprächspartner das Weite: Stotternde Menschen
stoßen im täglichen Miteinander oft auf dieselben Reaktionen. «Einige

behandeln Stotterer, als wären sie minderbemittelt, manche reagieren
sogar mit Gelächter oder Aggressionen», sagt Alexander Wolff von
Gudenberg, Leiter des Sprechtherapie-Instituts Parlo in Calden bei
Kassel. Der Welttag des Stotterns an diesem Mittwoch soll für das
Thema sensibilisieren.

Etwa 800 000 Menschen in Deutschland stottern dauerhaft. Die meisten
Menschen wüssten wenig über die Sprechstörung, erklärt der Psycholo
ge
Johannes von Tiling. «Stottern erscheint ihnen kurios, ja zuweilen
lächerlich», schreibt er in seinem aktuellen Buch «Kognitive
Verhaltenstherapie des Stotterns». Zwar habe der Erfolg des Kinofilms
«The King's Speech» über den stotternden König George VI. die Stö
rung
für kurze Zeit ins Rampenlicht gebracht. «Doch nach wie vor gibt es
in Deutschland ein großes Defizit an Wissen über das Stottern.»

Eine Ursache sei, dass Stotternde selten wortreich für ihre Belange
eintreten, erklärt Martin Sommer, Vorsitzender der Bundesvereinigung
Stottern & Selbsthilfe (BVSS). Sie zögen sich eher komplett zurück
und minimierten den Kontakt mit anderen. Auch Prominente täten sich
oft schwer damit, sich als Stotterer zu outen, sagt Sommer. Marylin
Monroe stotterte, Bruce Willis als Kind ebenfalls. In Deutschland ist
wohl «Der Graf», Sänger der Band Unheilig, das prominenteste
Beispiel.

Stotterer sind nicht schlechter darin, beim Sprechen die passenden
Wörter zu finden. Beeinträchtigt ist die Fähigkeit, die
beabsichtigten Worte adäquat auszusprechen. Die Unterbrechungen
werden in drei Kernsymptome unterteilt: Wiederholungen, Dehnungen von
Lauten und Blockierungen. Am häufigsten stottern Kinder, wie Sommer
erklärt. Bis zu elf Prozent seien es nach neueren Daten. Oft
verschwindet das unflüssige Sprechen bei ihnen von selbst oder bei
einer Therapie. Nur noch etwa ein Prozent der Erwachsenen stottern,
rund 80 Prozent sind männlich. Bei ihnen bleibt die Störung fast
immer lebenslang bestehen. «Spontanheilungen nach der Pubertät sind
extrem selten.»

Auch mit Therapien lässt sich die Störung dann meist nur mindern und
nicht vollständig aufheben. Dabei gibt es zwei große Richtungen: das
sogenannte Fluency Shaping und die Stottermodifikation. Beim Fluency
Shaping üben Betroffene ein weiches gebundenes Sprechen für eine
bessere Sprechkontrolle. Bei der Stottermodifikation wird der normale
Redefluss beibehalten, nur an den Hänge-Stellen wird versucht, die
jeweilige Blockade mit speziellen Techniken kontrollierter
aufzulösen.

Gänzlich neue Therapieformen seien in den vergangenen Jahrzehnten
nicht hinzugekommen, sagt von Gudenberg, der auch die Kasseler
Stottertherapie (KST) leitet, einen der führenden Anbieter in
Deutschland. Die technische Entwicklung der vergangenen Jahren habe
aber eine neue Variante ermöglicht: die Online-Therapie. «Damit
erreichen wir auch Menschen, die sonst keine Therapie machen wollen
oder können.» Eine Zielgruppe seien Jugendliche. Zusammen mit der
Techniker Krankenkasse bietet die Kasseler Stottertherapie derzeit in
einem Pilotprojekt solche Therapiestunden an.

Ob die Teletherapie wirke, müsse sich erst noch zeigen, sagt Sommer.
Wichtig für den langfristigen Erfolg einer Behandlung sei, dass weit
mehr als flüssiges Sprechen vermittelt werde. «Eine
Verhaltenstherapie verbessert das Ergebnis deutlich.»

Weil sie schon als Kind auf Abwertung und Stigmatisierung stoßen,
entwickeln sich bei vielen Betroffenen übertriebene Ängste, wie von
Tiling schreibt. Etwa die Hälfte der Stotternden litten an einer
Sozialen Phobie. Nicht nur Kontakte würden vermieden, aus Angst werde
oft ein Beruf nur darum gewählt, weil er mit wenig Gesprächen
verbunden sei.

Groß ist die Sehnsucht nach einem Wundermittel, einer einfachen
Alternative zu den viel Ausdauer und Motivation fordernden Therapien.
«Es gibt immer wieder Anbieter, die völlig unangemessene
Heilsversprechen machen», warnt Sommer. Mit einfachen Änderungen der
Sprechweise lasse sich Stottern rasch vermindern und kurzfristig eine
Heilung vorgaukeln. Für den Alltag seien die Methoden aber in den
allermeisten Fällen ungeeignet.

Neue Ansätze könnten das Wissen um die genauen Ursachen des Stotterns
liefern - doch noch ist vieles dabei unklar. Sicher ist, dass die
Störung über alle Kulturen hinweg ähnlich oft und familiär gehäuf
t
auftritt, es also eine starke genetische Komponente gibt. Studien
weisen auf subtile Veränderungen der linken Hirnhälfte in der für
Sprechmotorik und Hören zuständigen Region hin, wie Sommer, Neurologe
an der Universität Göttingen, erläutert.

Der Charakter ist anders als lange angenommen nicht entscheidend:
Stotternde Kinder sind nicht ängstlicher, verhaltensauffälliger,
depressiver oder weniger intelligent als andere.

Für die Psyche und langfristige Therapieerfolge sei das wichtigste,
das Gefühl der Kontrolle wiederzugewinnen, betont von Gudenberg. Auch
Sommer hält es für extrem wichtig, das Vertrauen in die eigenen
Fähigkeiten zu stärken - etwa in Sprech- oder Selbsthilfegruppen. «Es

gibt noch keine Wunderpille, die Stottern heilen kann», lautet sein
Fazit. «Aber das Leiden am Stottern, das ist heilbar.»

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