Gramm für Gramm: Der schwierige Weg, eine Essstörung zu heilen Von Jörg Schurig  und Arno Burgi , dpa

Wenn Kinder an Magersucht oder Bulimie leiden, gelangen ihre Eltern
schnell an Grenzen. Der Weg zu einem normalen Essverhalten ist
mitunter lang.

Dresden (dpa) - Emma K. ist ein hübsches junges Mädchen mit langen
blonden Haaren und blauen Augen. Die 12-Jährige stammt aus einer
kleinen Stadt im Osterzgebirge, etwa 50 Kilometer von Dresden
entfernt. Auf dem Gymnasium zählt sie zu den Besten, nach den Ferien
folgt Klasse 7. Was sie mal werden will, weiß sie. «Erzieherin», sagt

sie. Emma wirkt wie ein unbeschwertes Kind an der Schwelle zum
Teenager. Doch da ist die heimliche Angst vor der Waage. Die gibt
jede Woche an, wie es um Emma steht. Das Mädchen leidet seit rund
zweieinhalb Jahren an Magersucht, Anorexie.

Der Wunsch, schlanker als andere zu sein, habe bei Emma keine Rolle
gespielt, glaubt ihre Mutter. Das Mädchen selbst kann sich an keinen
konkreten Auslöser erinnern - oder verschweigt ihn. «Emma hatte kein
Problem mit ihrer Optik», ist sich Frau K. sicher. Mit einem
Geburtsgewicht von mehr als 4000 Gramm und auch später sei sie ein
«kerniges Kind» gewesen. In der Schulzeit hätten sich Probleme
eingestellt: «Vielleicht war das stressbedingt. Emma ist eine
Perfektionistin, will immer gute Leistungen bringen und hat sich
möglicherweise zu sehr unter Druck gesetzt.»

Im Herbst 2012 ist der Mutter klar, dass mit ihrer Tochter etwas
nicht stimmt. «Anfangs will man das nicht wahrhaben. Man denkt, das
sind Flausen, die gehen auch wieder weg.» Zunächst habe sie mit ihrem
Mann das Problem allein zu lösen versucht: «Aber irgendwann kommt der
Punkt, an dem man nicht mehr kann. Ich habe nachts davon geträumt und
bekam Angst, dass mein Kind verhungert.» Die Kinderärztin erkannte
die Erkrankung nicht. «Wir hatten uns eine Grenze gesetzt: Wenn Emma
bei 28 Kilogramm anlangt, muss sie in die Klinik», erzählt Frau K.,
die noch zwei Töchter hat.

Der Punkt war schnell erreicht. Das Mädchen kam als Notfall auf die
Spezialstation für Essstörungen der Kinder- und Jugendpsychiatrie im
Dresdner Uniklinikum. Elf Wochen blieb sie auf der Station, die
ersten eineinhalb davon musste sie viel ruhen. Fortan galt für sie
ein verhaltenstherapeutisches Programm.

«Am Anfang der Behandlung sind unsere Patientinnen aufgrund des
starken Untergewichtes oft stark beeinträchtigt. Ständiges
Gedankenkreisen um Themen wie Essen und Gewicht sowie ständiger
Bewegungsdrang sind oft quälend für die Betroffenen und ihre
Familien. Deswegen helfen wir bei vielen Entscheidungen oder machen
auch Vorgaben», erklärt Klinikchef Veit Roessner. Damit sich die
Patienten auf die Therapie konzentrieren können, gibt es Grenzen: Ein
Handy oder freien Ausgang gibt es nur bei steigendem Gewicht.

Die Mädchen und Jungen sollen mindestens 700 Gramm pro Woche
zunehmen, aber nicht mehr als 1,5 Kilo. Dann bekommen sie Schritt für
Schritt mehr Selbstverantwortung, etwa bei der Auswahl der
Essensportionen. Wenn eine bestimmte Gewichtsgrenze erreicht ist,
kommt auch wieder Sport dazu. Die Unterstützung der Gruppe hilft.
«Eine gute Gruppendynamik wirkt manchmal Wunder», sagt Roessner.

Nach der Station begann für Familie K. eine Gruppentherapie in der
Familien-Tagesklinik. Bis zu sechs Familien teilen dort ein ähnliches
Schicksal, die Betreuung erfolgt einzeln oder zusammen. Viele
Gespräche werden per Video aufgezeichnet und ausgewertet. Die
Teilnehmer können sich auch zu anderen Kindern äußern: «Das bewegt

manchmal mehr, als wenn wir hundertmal das Gleiche sagen», betont
Roessner. Den Eltern mache er klar, dass sie liebevoll, aber
konsequent bleiben müssen: «Ein Kind muss auch mal 10 Minuten am
Tisch sitzen bleiben.»

Familie K. nutzte das Angebot nur kurze Zeit. Weil Emma die Jüngste
in der Runde war, hatte ihre Mutter Befürchtungen, im Kontakt mit den
Größeren könne sich die Situation noch verschärfen. «Die haben si
ch
nur darüber unterhalten, ob sie sich noch im Schwimmbad im Bikini
zeigen können», erinnert sich das Mädchen.

Seit eineinhalb Jahren ist Emma nun bei der Psychotherapeutin
Cornelia Zimmermann in Behandlung. An einem regnerischen Dienstag ist
es wieder so weit. Emma ist mit ihrer Mutter gekommen, um über die
vergangenen Wochen zu berichten und neue Ziele festzulegen. Die
bemessen sich vor allem am Gewicht. Für diesen Tag waren 45 Kilogramm
ausgemacht. Zimmermann beginnt jede Sitzung mit Wiegen und Messen.
Was Emma auf die Waage bringt, reicht noch nicht. 300 Gramm fehlen,
so dass sie vorerst auf ihr Handy verzichten muss. Die Konsequenzen
wurden vorher vereinbart. Mehr Freiheiten gibt es, wenn Ziele
erreicht werden.

Da Emma zuletzt deutlich gewachsen ist, muss das erforderliche
Mindestgewicht neu bestimmt werden. Beachtung findet neben Alter und
Größe auch die individuelle Gewichtsentwicklung in den Zeiten ohne
Essstörung. Bei 1,62 Meter Körpergröße müsste Emma eigentlich 47
Kilo
wiegen - so lautet nun die neue Zielmarke: «Wir sind noch nicht da,
wo wir hinwollen. Da du gerade wächst, brauchst du mehr. Dein Körper
braucht Kraft», macht Zimmermann dem Mädchen klar.

Bei der einstündigen Sitzung dreht sich vieles ums Essen, aber auch
um Selbstbewusstsein und Körperwahrnehmung. Die Therapeutin und Emma
sprechen über den Alltag, ob Emma gut schläft, ob sie vor etwas Angst
hat, was ihre Hobbys sind. Das Mädchen liebt Fußball und bewegt sich
gern. Auch da stellt Zimmermann einen Zusammenhang her: «Du darfst
dich erst mehr bewegen, wenn du zunimmst.» Die Therapeutin rät ihr,
immer einen Müsliriegel oder Studentenfutter dabei zu haben: «Wichtig
ist, das Essen über den Tag gleich zu verteilen, damit du in keine
Löcher fällst. Du trägst Verantwortung für dein Essen.»

Essstörungen zählten zu den häufigsten Erkrankungen bei Jugendlichen

und jungen Erwachsenen, sagt Professor Ulrich Voderholzer. Er leitet
mit der Schön Klinik Roseneck am Chiemsee eine der bundesweit größten

Einrichtungen zur Behandlung solcher Störungen. «Risikofaktoren sind
Ängstlichkeit, Unsicherheit, ein geringes Selbstwertgefühl, starke
Leistungsorientierung und Perfektionismus. Auslöser sind oft eine
Diät sowie negative Bemerkungen wichtiger Bezugspersonen über Figur
und Aussehen.» Auch das Schlankheitsideal in der Gesellschaft spiele
eine Rolle.

Die Schätzungen, wie viele Menschen in Deutschland betroffen sind,
gehen weit auseinander. Voderholzer geht von 200 000 bis 300 000
Magersüchtigen und 500 000 bis 700 000 Betroffenen mit Bulimie
(Ess-Brech-Sucht) aus. Bei Kindern sei Magersucht und Bulimie noch
selten. In der Pubertät folge aber eine starker Anstieg, dann sei ein
Jugendlicher von 100 betroffen. Die Kindergesundheitsstudie KIGGS
habe ergeben, dass knapp 15 Prozent der Jungen und knapp 30 Prozent
der Mädchen ein auffälliges Essverhalten zeigen.

Eine der weltweit größten Datensammlungen zu dem Krankheitsbild ist
im Zentrum für Essstörungen in Dresden zu finden. Professor Stefan
Ehrlich ist Chef dort und hat festgestellt, dass in betroffenen
Familien häufig überdurchschnittlich viel über Essen oder Diäten
gesprochen wird: «Da gibt es Kinder, die nicht so werden wollen wie
ihre Eltern. Oder aber sie möchten bei Diäten die Besten sein.» Es
gehe auch darum, etwas zu finden, bei dem man besser sei als andere.

Medienformate und die Industrie können den Wunsch nach einer
Idealfigur pushen. Ehrlich zufolge sind weit mehr Mädchen als Jungen
betroffen. Deren Anteil liege derzeit bei nur drei Prozent - jedoch
mit steigender Tendenz. Und noch einen Trend stellen Experten fest:
Die Patienten werden immer jünger. Das hängt in erster Linie mit der
früher einsetzenden Pubertät zusammen. In Dresden werden selbst Drei-
und Fünfjährige schon behandelt. Ehrlich berichtet von einem
fünfjährigen Mädchen, das nur noch Pudding aß.

Die Barmer Ersatzkasse in Sachsen hat nach Auswertung eigener Daten
unlängst alarmierende Zahlen veröffentlicht. Demnach verdoppelte sich
die Zahl betroffener Teenager von 2009 bis 2014 fast. Selbst im Alter
50+ gab es eine Zunahme von 20 Prozent. «Auslöser dafür können
schwere Lebenskrisen, der veränderte Körper nach einer Geburt,
jahrelange Diäten oder die Angst vor dem Älterwerden sein. In einer
jugendfixierten Gesellschaft wächst mit dem Älterwerden die Angst vor
dem Verlust von Erfolg, Anerkennung und Konkurrenzfähigkeit», sagt
Paul-Friedrich Loose, Barmer-Landesgeschäftsführer in Sachsen.

Der Bundesfachverband Essstörungen, ein Zusammenschluss von Ärzten,
Therapeuten und Beratern, verweist auf eine weitere Entwicklung: Die
Zahl der jungen Menschen mit psychischen Erkrankungen wie Depression,
Borderline oder Zwangsstörungen wächst. Manchmal treten sie zusammen
mit Essstörungen auf. «Der Druck auf Jugendliche wird immer größer
»,
spricht Verbandschef Andreas Schnebel ein generelles Problem an.

An vielen deutschen Universitäten wird heute an Essstörungen
geforscht. In Dresden hat man sich unter anderem auf Schrumpfungen
der Hirnrinde konzentriert. Das Team um Professor Ehrlich fand
heraus, dass sich die Dicke der Hirnrinde im akuten Stadium der
Magersucht stark verringert - bei vollständiger Therapie meist aber
wieder regeniert. «Das Ausmaß der Veränderungen am Hirn ist denen bei

einer Alzheimer-Erkrankung beobachtbaren Abbauprozessen sehr
ähnlich», beschreibt Ehrlich die Folgen der Essstörung.

«Etwa zehn Prozent der Patienten mit einer Essstörung sterben daran
oder nehmen sich später das Leben», sagt Ehrlich. Rund die Hälfte
könne man heilen. 40 Prozent der Betroffenen neigten zu Rückfällen -

vor allem in Stress- und Krisensituationen. Meist unterscheiden sich
Essgestörte im Verhalten. Wer an Bulimie leidet, schämt sich oft und
bleibt in der Defensive. Bei Anorexie-Patienten spürt man bisweilen
einen gewissen Stolz. Alle sozialen Schichten sind betroffen, auch
wenn Magersucht oft als Krankheit der Besserverdiener gilt.

Für Emma und ihre Eltern dürften Statistiken zweitrangig sein. Im
Rückblick habe die Krise die Familie gestärkt, sagt Frau K. Nach dem
Termin bei der Therapeutin geht es zum Campingurlaub. «Fünfmal Nudeln
die Woche», ist sich Emma sicher. Die isst sie fast genauso gern wie
Zwiebelwurst oder Knacker. Nach der Therapiestunde geht es aber erst
mal zum Shoppen. «Emma ist auf einem sehr guten Weg», sagt Cornelia
Zimmermann. Emma werde es schaffen.

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