Adipositas-Chirurgie: Wenn das Messer die letzte Chance ist Von Sandra Trauner und Boris Roessler , dpa

Immer mehr extrem übergewichtige Menschen lassen sich den Magen
verkleinern. Manche sind so schwer, dass sie mit der Feuerwehr in die
Klinik gebracht werden müssen.

Frankfurt/Main (dpa) - Markus John muss 100 Kilo abnehmen, damit er
ein neues Kniegelenk bekommen kann. Bianca Kuhl würde so gerne mal in
Urlaub fliegen, nur bisher passt sie in keinen Sitz. Vor ihrer
Operation haben beide mehr als 200 Kilo gewogen. Mit einer
Magenverkleinerung hoffen sie, drastisch an Gewicht zu verlieren.
Immer mehr extrem übergewichtige Menschen lassen sich in Deutschland
operieren. Aus Sicht von Medizinern sind es immer noch zu wenige -
Deutschland ist im europäischen Vergleich Schlusslicht. Für die
Krankenkassen sind es schon heute zu viele.

Chirurgie gegen Fettleibigkeit ist auch Thema auf der Jahrestagung
der Deutschen Adipositas-Gesellschaft, die am 17. November in
Frankfurt am Main beginnt. Experten aus aller Welt stellen dort neue
Operationsverfahren vor, teils mit Live-Operationen, die per Video in
den Kongresssaal übertragen werden.

Als übergewichtig gelten laut Weltgesundheitsorganisation WHO
Erwachsene mit einem Body-Mass-Index zwischen 25 und 30. Bei einem
BMI von über 30 ist man fettleibig, «adipös». Viele Patienten, die

wie Markus John und Bianca Kuhl den Weg ins Deutsche
Adipositas-Zentrum im Frankfurter Krankenhaus Sachsenhausen finden,
haben einen BMI von über 50. Manche sind so unbeweglich, dass sie von
der Feuerwehr mit speziellen Hebevorrichtungen gebracht werden
müssen. Der schwerste Patient, den Chefarzt Plamen Staikov bisher
operiert hat, wog 340 Kilo.

Markus John war früher selbst bei der Feuerwehr. Das geht schon lange
nicht mehr. Der Hufschmiedgehilfe ist arbeitsunfähig. «Ich kann ja
kaum laufen», erzählt der 42-Jährige. Er habe Knieprobleme, finde
aber keinen Arzt, der ihm ein neues Gelenk einsetze: «Die sagen
alle: Nehmen Sie erstmal ab.» Jahrelang habe er Kuren und Diäten
gemacht, ohne Erfolg: «Das Gewicht ging runter und wieder rauf.»

Vor rund vier Wochen hat John einen sogenannten Schlauchmagen
bekommen. Dabei wird der Magen radikal verkleinert, ist nach der
Operation nur noch ein Schlauch. «Ich schaffe noch drei, vier Gabeln,
mehr geht nicht rein», sagt der Mann aus Herborn. Auch sein
Hungergefühl sei verschwunden. Zum ersten Nachsorgetermin kommt er
mit einem Ess-Tagebuch und einem Wiegeheft. Ausgangsgewicht vor dem
Eingriff: 237 Kilo, heute Morgen zeigte die Waage 214,8 Kilo.

«Ich bekomme besser Luft und habe schon eine neue Hose gekauft», sagt
er. Außenstehende sehen das nicht unbedingt, wenn John sich aus den
besonders verstärkten Sitzen hochstemmt und durch die extrabreiten
Türen der Klinik geht. Man glaubt ihm sofort, wenn er erzählt, wie er
nach der Operation auf dem Weg zur Toilette stürzte und acht Mann
nötig waren, um ihn wieder in den Spezial-Rollstuhl zu hieven.

«Für diese Patienten ist eine Operation keine Alternative. Sie ist
der einzige Weg», sagt Chefarzt Staikov. Mit einer «konservativen
Therapie» - Ernährungsumstellung plus Bewegung - verlören die
Patienten im Schnitt rund ein Kilo pro Monat. Wenn 100 Kilo runter
müssen, ein aussichtsloses Unterfangen.

Bianca Kuhl hat vor einem halben Jahr einen Schlauchmagen bekommen.
Jetzt wiegt sie 176 Kilo. 22 Jahre alt war sie, als erstmals die
200-er Marke fiel, 220 war ihr Maximum. Jahrelang pendelte ihr
Gewicht zwischen 220 und 200, «mehr habe ich mit Diäten nicht
geschafft». Die 29-Jährige zählt sich zu den «Binge-Eatern», sie

bekommt Fressattacken und isst dann unverhältnismäßig viel. Vor ihrer

OP habe sie nicht nur extrem viel, sondern auch viel Ungesundes
gegessen: Süßigkeiten, Chips, Fertiggerichte, dazu süße Getränke.


Seit der Magenverkleinerung passt «kaum noch was rein». Dann wird der
Druck im Magen schmerzhaft, wenn sie weiterisst, muss sie sich
übergeben. «Man muss ein Gefühl dafür entwickeln, was geht», sagt
sie
über ihre neue Ernährungsdisziplin. «Es dauert, bis das im Kopf
angekommen ist.» Sie habe auch schon gehört, dass sich Menschen mit
Schlauchmagen ein Glas Nutella erhitzen und schlürfen. Etwa 20
Prozent der Operierten nähmen trotz OP weiter zu, sagt Staikov. «Der
Körper entwickelt Gegenmechanismen: Er will den alten Zustand
zurück.»

Die häufigste «bariatrische» (gewichtsreduzierende) OP ist der
Schlauchmagen, die zweithäufigste ein Magen-Bypass. Dabei wird der
Magen nicht nur verkleinert, sondern auch weiter unten in den Darm
geleitet, damit dieser die Nahrung nur noch teilweise verwerten kann.
Nicht so häufig sind Magenband, Magenballon und Magenschrittmacher.

Ein solcher Eingriff sei für Patienten mit extremem Gewicht «die
einzige Chance, dauerhaft viel Gewicht zu verlieren», sagt Prof.
Rudolf Weiner (Offenbach), Tagungspräsident des Frankfurter
Adipositas-Kongresses. Deutschlandweit werden jährlich knapp 10 000
solcher Operationen durchgeführt - Tendenz steigend. Verglichen mit
den europäischen Nachbarländern sei Deutschland «Entwicklungsland»,

sagt Weiner. «Adipositas nimmt ungebremst zu, nicht aber die Zahl der
Operationen.»

Einem OECD-Bericht zufolge ist die Zahl dieser gewichtsreduzierenden
Operationen europaweit sehr unterschiedlich. 2014 waren es - bezogen
auf je 100 000 Einwohner - in Belgien 104, in Schweden 78, in
Frankreich 57 - in aber nur Deutschland 15.

«In Deutschland wird nicht nur zu wenig, es wird auch viel zu spät
operiert», findet Weiner. Je später die Patienten den Weg in die
Klinik fänden, desto schwerer seien sie, desto älter, desto kränker -

und desto unwahrscheinlicher werde es, dass sie jemals wieder
Normalgewicht erreichten. Schuld daran seien auch die Hausärzte: «Das
Wissen über Adipositas ist nicht nur in der Öffentlichkeit, sondern
auch bei Allgemeinmediziner eine absolute Katastrophe.»

Dazu komme, dass es in Deutschland schwerer sei als in anderen
Ländern, eine Kostenübernahme der Krankenkassen zu bekommen, ergänzt

Chefarzt Staikov. Chirurgie gegen Adipositas komme nur «als Ultima
Ratio» in Betracht, heißt es im «Begutachtungsleitfaden» des
Medizinischen Dienstes. Das heißt: erst, wenn alle anderen Versuche
fehlgeschlagen sind. Eine OP sei «nur bei ganz bestimmten Patienten
sinnvoll», erklärt der Spitzenverband der Gesetzlichen Krankenkassen.
«Nicht jeder übergewichtige Patient, der will, wird eine solche
Operation erhalten.»

Damit die Kasse Ja sagt, müssen die Kandidaten eine ganze Reihe von
Bedingungen erfüllen: Ein BMI über 35, erhebliche
Begleiterkrankungen, aber keine psychiatrische Erkrankung, die
Bereitschaft zur lebenslangen Nachsorge, ausreichende Motivation -
und sie müssen ein Jahr lang nachweislich versucht haben,
«konservativ» abzunehmen.

Allein bei den Versicherten der Krankenkasse DAK-Gesundheit hat sic
h
die Zahl der Magen-OPs bei fettleibigen Menschen in den vergangenen
zehn Jahren verdreifacht, wie aus dem «Versorgungsreport Adipositas
»
hervorgeht. Die Kasse fordert ein Umdenken bei der Versorgung: Für
besonders stark Übergewichtige mit einem BMI ab 40 sieht das Konzept
der DAK-Gesundheit auch die Möglichkeit einer chirurgischen
Behandlung vor. 

Der Krankenhausreport 2016 der Barmer GEK kritisiert hingegen die
wachsende Zahl bariatrischer Eingriffe - und dass zu viele Kliniken
sie anbieten. Wenn eine Magenverkleinerung «unvermeidbar» sei, müsse

sie unbedingt in einem zertifizierten Zentrum erfolgen.
Deutschlandweit gibt es 46 solcher Zentren. Die Eingriffe seien
«komplex und risikobehaftet», heißt es in den Report. Dennoch böten

inzwischen auch viele kleine Häuser mit geringen Fallzahlen und wenig
Expertise solche OPs an. 

Im Durchschnitt der OECD-Länder ist jeder zweite Erwachsene
übergewichtig und jeder fünfte adipös. Einem OECD-Bericht zufolge
verursacht ein fettleibiger Mensch rund 25 Prozent mehr Kosten im
Gesundheitswesen. Grund sind die Folgeerkrankungen wie Diabetes oder
Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Studien belegen,
dass Adipositas Auslöser ist für mehr als 60
Begleiterkrankungen, darunter auch Krebs und Depressionen. Mit einer
Reduzierung der Zahl fettleibiger Menschen würde auch das
Gesundheitssystem entlastet.

Dass Ärzte überhaupt auf die Idee verfallen, ein gesundes Organ - den
Magen - zu operieren, «das macht unsere ganze Verzweiflung deutlich»,
sagt Prof. Matthias Blüher (Leipzig), der Präsident der Deutschen
Adipositas-Gesellschaft. Adipositas sei «ein Riesenproblem». Es sei
richtig und wichtig, dass vor einer OP alle anderen Wege ausprobiert
werden. Aber ab einem gewissen BMI gebe es aber oft «keine andere
Option», um dauerhaft Gewicht zu reduzieren.

Ein Allheilmittel ist dies laut Blüher aber nicht. Abgesehen von den
allgemeinen Risiken einer Operation «sind die Patienten mit dem
Eingriff nicht geheilt». Nach der OP sei eine lebenslange Nachsorge
nötig: Werte wie der Blutzuckerspiegel müssen überwacht, Vitamine und

Mineralstoffe zugeführt werden. Dazu kommen Ernährungsberatung und
Bewegungsprogramme. Oft sind später auch kosmetische Operationen
nötig, um die Hautlappen loszuwerden.

Auch für Markus John und Bianca Kuhl ist die magenverkleinernde
Operation nur der Anfang. Er hofft auf ein neues Knie und den
Wiedereinstieg bei der Freiwilligen Feuerwehr. Sie träumt von einem
Gewicht im zweistelligen Bereich. Dann könnte sie endlich machen, was
für andere ganz normal ist: arbeiten, ins Kino gehen, Sport treiben.
Früher habe sie ja nur «Bank-Hocking» betrieben, scherzt sie. Jetzt
ist sie auf der Suche nach einem Fitnessstudio. Ihr Arzt findet das
gut. Von Diäten hält er nicht viel. «Was hilft, ist eine Veränderun
g
der Lebens- und Essgewohnheiten: weniger essen, mehr bewegen.»

Online-Wechsel: In drei Minuten in die TK

Online wechseln: Sie möchten auf dem schnellsten Weg und in einem Schritt der Techniker Krankenkasse beitreten? Dann nutzen Sie den Online-Beitrittsantrag der TK. Arbeitnehmer, Studenten und Selbstständige, erhalten direkt online eine vorläufige Versicherungsbescheinigung. Die TK kündigt Ihre alte Krankenkasse.

Jetzt der TK beitreten





Zur Startseite