Hinter Auto hergeschleift: Frau arbeitet Misshandlung mit Buch auf Von Matthias Brunnert, dpa
Ein Mann schleift seine Ex-Frau an einem Strick hinter dem Auto durch
die Straßen. Der kleine Sohn muss zusehen, wie seine Mutter beinahe
stirbt. Jetzt möchte das Opfer den Horror mit einem Buch verarbeiten.
Hameln (dpa) - Königstraße, Prinzenstraße, Kaiserstraße - klangvoll
e
Namen. Doch sie sind verbunden mit einem schrecklichen Verbrechen,
das als «Horrorfahrt von Hameln» bundesweit Schlagzeilen machte. Wer
heute durch die Kaiserstraße geht, wo die Fahrt am 20. November
vergangenen Jahres endete, findet nichts, was an die Tat erinnert.
«Es ist aber nichts vergessen», sagt Rathaussprecher Thomas Wahmes.
«Es war so heftig, so krass, so unvergleichlich. Das lässt die
Hamelner nicht los. Das beschäftigt sie bis heute», erklärt er.
Was war geschehen? An jenem Sonntagabend treffen sich Nurettin B.
(heute 39) und Kader K. (heute 29) in der Königstraße. Der damals
drei Jahre alte gemeinsame Sohn, der nach der Trennung der Eltern
jedes zweite Wochenende bei Nurettin B. verbringen darf, soll vom
Vater zurück an die Mutter übergeben werden. Wie so oft gibt es
Streit. Es geht um den Unterhalt für den Jungen. Nurettin B. greift
zum Messer. Er sticht auf seine frühere Frau ein und verletzt sie in
der Herzgegend. Dann nimmt der Mann eine Axt und schlägt sie Kader K.
an den Schädel.
Zwei Anwohnerinnen - Mutter und Tochter - hören beim Abendessen die
Hilfeschreie der Frau. Sie alarmieren die Polizei. Die Mutter läuft
auf die Straße und fleht den Täter an: «Bitte, bitte lass sie los,
die Polizei kommt jetzt!» Doch Nurettin B. habe das nicht hören
wollen, erinnerte sich die Zeugin vor Gericht.
Obwohl das blutende Opfer laut der Zeugin auf dem Boden liegt und nur
noch wimmert, holt Nurettin B. ein Seil aus dem Kofferraum. Er knotet
es Kader K. um den Hals und bindet das andere Ende an der
Anhängerkupplung seines Autos fest. Dann setzt er sich ans Steuer. Er
gibt Gas und schleift das hilflose Opfer mit.
Mit hohem Tempo rast Nurettin B. durch die Königstraße, dann durch
die Prinzenstraße. Seine Ex-Frau schleudert über Asphalt und
Kopfsteinpflaster. Dann biegt der 39-Jährige in die Kaiserstraße ein,
die direkt auf den Hamelner Bahnhof zuführt. Der fingerdicke Strick
löst sich während der Fahrt vom Auto. Kader wird wie eine Puppe durch
die Gegend geschleudert. Sie bleibt vor einem Imbiss liegen. Dort
finden Passanten die lebensgefährlich verletzte Frau.
Einer der ersten Polizisten, die an jenem Abend am Tatort eintreffen,
erinnert sich: «Als der Notruf kam, sind wir sofort losgefahren. Ich
habe die Frau auf dem Gehweg neben der Kaiserstraße liegen sehen»,
sagt der Oberkommissar. «Sie war nicht mehr ansprechbar und
besinnungslos.» Als den Beamten klar wird, dass Kader K. am Seil
hinter einem Auto durch die Straßen gezogen wurde, sind sie entsetzt.
Noch während Sanitäter und Ärzte um das Leben der Frau kämpfen,
stellt sich Nurettin B. freiwillig der Polizei und lässt sich in der
nur wenige Hundert Meter vom Tatort entfernten Wache widerstandslos
festnehmen. Im Prozess wird er später erklären lassen, er sei im
Streit um die Unterhaltspfändungen ausgerastet und habe nur noch Hass
empfunden.
«Die beispiellose Tat» habe Hameln erschüttert, sagte Rathaussprecher
Wahmes am Tag nach der Horrorfahrt. «Es ist schwer zu begreifen, dass
ein solches Verbrechen hier nur ein paar Straßen vom Rathaus entfernt
begangen wurde.» Oberbürgermeister Claudio Griese (CDU) sprach von
«einer barbarischen Tat», die beispiellos sei in Deutschland. Und
diese Tat wirke nach, sagt Wahmes heute. «Sie beschäftigt viele
Hamelner ein Jahr später noch immer.»
Kader K. wird zweimal wiederbelebt, bevor Ärzte sie im Krankenhaus
mit einer Notoperation retten. Doch das schreckliche Geschehen lässt
die junge Frau nicht los. Der Tag, an dem ihr Ex-Mann sie auf
grausame Weise umbringen wollte, bestimmt seit einem Jahr ihr Leben
und ihren Alltag: «Ich habe Schmerzen. Mein Rücken, mein Nacken,
meine Schulter, mein Kopf tun weh. Mir wird dauernd schwindlig»,
berichtet die 29-Jährige.
«Ob das jemals wieder gut wird, weiß man nicht», sagt ihr Anwalt
Roman von Alvensleben. Hinzu kommen die schweren Nächte des Opfers.
«Ich habe Alpträume», sagt Kader K. «Ich träume, dass ich angegri
ffen
werde, dass ich keinen Ausweg habe, dass ich mich verstecke oder
wegrenne.»
Die junge Frau sei dem Tod dreimal sehr nahe gewesen, stellte der
Vorsitzende der Schwurgerichtskammer am Landgericht Hannover fest,
die Nurettin B. im Mai diesen Jahres wegen Mordversuchs zu 14 Jahren
Haft verurteilte. Die Taten seien eine menschenverachtende Form der
Erniedrigung und der Zurschaustellung gewesen.
Kader K. leidet seither an einer schweren posttraumatischen
Belastungsstörung. «Ich werde derzeit ambulant behandelt», sagt die
junge Frau. «Ich komme aber bald zur stationären Therapie in eine
Traumaklinik.» Auch ihr heute vierjähriger Sohn ist in
psychiatrischer Behandlung. Der Junge saß während des Gewaltexzesses
im Auto und hörte die Schmerzensschreie der Mutter. «Körperlich geht
es ihm gut», sagt Kader K., «aber psychisch nicht. Er leidet».
Ein Buch, so hofft Kader K., werde ihr jetzt helfen, das grausame
Geschehen zu verarbeiten. Die 29-Jährige hat dazu dem Hamelner
Journalisten Ulrich Behmann stundenlang aus ihrem Leben erzählt, auch
aus der für sie schrecklichen Zeit vor der Trennung, als ihr Mann -
Kader K. nennt ihn heute nur noch «den Täter» - ihr das Leben mit
Schlägen und Demütigungen zur Hölle machte.
Das Paar hatte sich bei einer Kurden-Demonstration kennengelernt. Vor
der Heirat nach islamischem Recht, weil Nurettin B. noch mit einer
anderen Frau verheiratet war, habe er versprochen, ihr die Welt zu
Füßen zu legen, erinnert sich die 29-Jährige. «Ich dachte mir, er i
st
ein vernünftiger Mensch. Aber sobald wir verheiratet waren, fing der
Horror an.» Im Dorf Eimbeckhausen bei Bad Münder am Deister, wo
Nurettin B. ein Haus besitzt, habe er sie angespuckt, beleidigt und
geschlagen. Sie habe kein Handy besitzen und schließlich auch keine
Verwandten mehr besuchen dürfen.
Weil sie keine Sklavin habe sein wollen, floh Kader K. 2014 mit ihrem
Baby zu ihrer Mutter nach Hameln. In der Folgezeit gab es mit
Nurettin B. immer wieder Streit: um Unterhalt, um den zur Hochzeit
geschenkten Goldschmuck, den Nurettin B. wieder einkassierte, um das
Sorgerecht für den Sohn. Eine Unterhaltspfändung führte schließlich
nach mehrfachen Morddrohungen zu dem Verbrechen.
«Es tat mir gut, dass ich für das Buch alles erzählen konnte», sagt
die junge Frau. «Es war für mich eine Art Therapie.» Genauso wichtig
sei ihr noch etwas anderes: «Ich will damit auch andere Frauen
ermutigen, sich nicht mehr unterdrücken zu lassen, sich nicht mehr
alles gefallen zu lassen von Männern, die gewalttätig und egoistisch
sind», sagt Kader K. Sie trägt ein Kopftuch, um die Stellen am Kopf,
an denen nach der «Horrorfahrt» keine Haare mehr wachsen, zu
verstecken.
Autor Behmann, der als Lokaljournalist in Hameln den «Fall Kader K.»
gut kennt, hat das Erzählte und die aus den Ermittlungen der Polizei
und dem Strafprozess bekannt gewordenen Fakten zum Kriminalroman
«Novemberwut» verarbeitet. «Ein Sachbuch wäre langweiliger und dem
Fall weniger gerecht geworden», sagt Behmann. «Aber fast alles, was
im Roman erzählt wird, ist real.»
Er verzichte auf sein Honorar, sagt Behmann. Denn er wünsche sich,
dass mit dem Verkauf des Buches möglichst viel Geld für Kader K.
zusammenkommt. Die 29-Jährige hatte im Strafprozess gegen ihren
Ex-Mann zwar fast 140 000 Euro Schmerzensgeld zuerkannt bekommen.
Davon ist bisher bei ihr aber noch nichts angekommen. «Arbeiten kann
ich nicht», sagt die 29-Jährige. Sie lebe von Sozialleistungen und
der Unterstützung ihrer Familie.
Die Familie sei es auch gewesen, die ihr Mut zu dem Buchprojekt
gemacht habe, sagt Kader K.. Ihrer Mutter, die als Analphabetin
leider nicht lesen könne, werde sie den Tatsachenroman, der ihr
selbst sehr gut gefalle, aber auf keinen Fall vorlesen. «Ich möchte
nicht, dass sie das Schreckliche noch einmal nacherleben muss.»
Sie selbst sei dankbar, dass viele Menschen ihr nach der Tat mit
Zuwendung und Spenden geholfen hätten, sagt Kader K., die sich als
gläubige Muslima bezeichnet. «Und ich bin Gott dankbar, dass ich noch
lebe. Ohne ihn wäre ich nicht mehr da.»
Mit dem Vater ihres Kindes möchte die junge Frau nie wieder etwas zu
tun haben. Möglicherweise wird ihr dies aber nicht erspart bleiben.
Denn Nurettin B. setzt darauf, dass der Prozess trotz des
rechtskräftigen Urteils noch einmal von vorne beginnt. Der 39-Jährige
habe sich in mehreren Briefen über seine Anwälte beklagt, sagt der
Sprecher der Staatsanwaltschaft Hannover, Thomas Klinge. Nurettin B.
fühle sich von den Verteidigern falsch verstanden. Sie hätten seine
Ansichten im Prozess verkehrt wiedergegeben.
«Dies mussten wir als Antrag für ein Wiederaufnahmeverfahren
betrachten», sagt Klinge. Die Akten seien deshalb an die für
Wiederaufnahmeverfahren zuständige Kammer beim Landgericht Hildesheim
weitergeleitet worden. Die Staatsanwaltschaft selbst sehe zwar keinen
triftigen Grund für eine Wiederaufnahme. Die Gerichtsentscheidung
stehe allerdings noch aus.
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