Rausch auf Rezept: Mit Ketamin Depressionen knacken Von Andrea Barthélémy, dpa
So richtig viel geht bei der Suche nach neuen Antidepressiva nicht
vorwärts. Ein Stoff, der auch illegal als Clubdroge missbraucht wird,
nährt bei vielen Patienten nun Hoffnung.
Washington (dpa) - 45 Minuten dauert die Prozedur, auf die schwerst
depressive Menschen wie Barbara Reiger ihre Hoffnung setzen. Alle
sechs Wochen zieht sich die Amerikanerin aus San Diego auf eine Liege
in einen stillen Behandlungsraum zurück, wo stark verdünntes Ketamin
in ihre Vene fließt. «Ich spürte sofort Erleichterung», erinnert si
e
sich in einem Interview an ihren ersten «Trip», dessen Effekte ihr
zufolge über Wochen positiv nachwirkten.
Ketamin - ein seit Jahrzehnten bewährtes und illegal als Clubdroge
missbrauchtes Narkosemittel - hilft vielen, wenn auch längst nicht
allen Depressiven, die sonst von keinem Medikament mehr profitieren.
In den USA bieten den leichten Rausch auf Rezept bereits Dutzende
Kliniken und zahlreiche Privatpraxen ihren Patienten an. Etwa 3000
Menschen wurden bisher behandelt. Auch in Deutschland wird die
Therapie langsam bekannter.
Die Situation: Fast sieben Prozent der erwachsenen Amerikaner haben
klinische Depressionen - das sind 16 Millionen Menschen. Hinzu kommt
eine wachsende Zahl betroffener Kinder und Teenager. Sogar 12 Prozent
der erwachsenen Amerikaner nehmen Medikamente gegen Depressionen. Ein
riesiger, wachsender Markt. In Deutschland, wo etwa fünf Prozent der
18- bis 65-Jährigen an Depressionen leiden, ist die Lage geringfügig
besser - doch die Tendenz ist laut WHO weltweit steigend.
Händeringend suchen Forscher deshalb nach weiteren
Behandlungsoptionen. Die jüngsten Durchbrüche, sogenannte Selektive
Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) wie Prozac, liegen mehr als 30
Jahre zurück. Und sie haben nicht alle Erwartungen erfüllt. Fast ein
Drittel der Betroffenen spricht auf die verschiedenen Medikamente
nicht an. Oft ist es ein langer, schmerzhafter Weg, bis eine wirksame
Arznei gefunden ist. Denn bei jedem neuen Versuch zeigt sich erst
nach vier bis acht Wochen, ob ein Mittel wirkt.
Gleichzeitig tut schnelle Hilfe not, denn Selbstmordraten steigen -
in den USA ist es derzeit die höchste seit 30 Jahren. Bislang gab es
für Akutsituationen nur Elektrokrampftherapien. Dass Ketamin manche
Patienten binnen einer Stunde von ihren Selbstmordgedanken befreit,
überzeugt erste Mediziner. «Es ist ein Paradigmenwechsel, weil wir
jetzt schnell antidepressive Wirkungen erzielen können», sagt Carlos
Zarate vom National-Institut für mentale Gesundheit (NIMH), der den
Wirkstoff dort federführend erforscht.
Die Wirkweise ist jedoch noch nicht wirklich klar. Anders als bei den
SSRI läuft die Wirkkaskade im Gehirn nicht über die Botenstoffe
Serotonin oder Dopamin ab, sondern über Glutamat. Möglicherweise
setzt Ketamin oder sein Abbauprodukt einen beschleunigten Prozess in
Gang, der hilft, das Gehirn zu verändern. Menschen erleben im
Ketamin-Rausch oft Halluzinationen oder dissoziative Zustände, bei
denen sich Körper und Geist zu trennen und wieder neu
zusammenzusetzen scheinen. Es kann auch zu Angstzuständen,
Schlaflosigkeit und Flashbacks kommen.
Offen sind auch noch Fragen, ob Ketamin Langzeitfolgen hat oder
vielleicht sogar abhängig macht - da es möglicherweise dieselben
Rezeptoren anspricht wie Heroin und andere Opioide.
Diverse kleinere US-Studien haben die Wirksamkeit von Ketamin bei
einem Teil der SSRI-resistenten Schwerstdepressiven zwar belegt,
bislang fehlt jedoch eine große Doppel-Blind-Studie. Die
US-Zulassungsbehörde FDA hat Ketamin deshalb noch nicht zur
Behandlung von Depressionen zugelassen - praktiziert wird derzeit,
ähnlich wie in Deutschland, nur der sogenannte Off-Label-Einsatz.
Darunter versteht man den Einsatz von Medikamenten bei Krankheiten,
für die sie gar nicht offiziell genehmigt sind.
Auch die Amerikanische Psychiatrische Gesellschaft sieht wegen der
offenen Fragen Ketamin noch nicht als geeignetes Mittel für
behandlungs-resistente Depressionen an. «Ich glaube dennoch, es ist
die spannendste Behandlung für Störungen des Gemütszustandes der
vergangenen 50 Jahre», sagt der Ketamin-Forscher Gerard Sanacora
(Yale School of Medicine). Mehrere Pharma-Unternehmen arbeiten
bereits an Ketamin-ähnlichen Mitteln, die beispielsweise als
Nasenspray verabreicht werden können.
Hier sieht auch der deutsche Experte Malek Bajbouj (Klinik für
Psychiatrie, Charité Berlin) Potenzial. An der Charité läuft mit
bislang 100 Patienten das größte Ketamin-Therapieangebot bundesweit.
Die Erfolgsquote liege dabei zwar nur bei 35 bis 50 Prozent,
berichtet Bajbouj. Ein großer Vorteil von Ketamin sei jedoch der
schnelle Eintritt der Wirkung. «Noch wichtiger sind aber Erkenntnisse
über den besonderen Wirkmechanismus. Sie können den Pfad zu neuen
Antidepressiva öffnen.»
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