Recht auf selbstbestimmten Tod - Karlsruhe erlaubt Sterbehilfe Von Anja Semmelroch und Sönke Möhl, dpa
Mit einem historischen Urteil ermöglicht das Bundesverfassungsgericht
organisierte Suizidhilfe in Deutschland. Jeder Mensch soll frei
entscheiden dürfen, wann und wie er stirbt - für viele ein Tabubruch.
Karlsruhe (dpa) - Die einen wünschen sich nichts mehr als ein
selbstbestimmtes Sterben. Die anderen warnen eindringlich vor einer
Gesellschaft, in der sich alte und kranke Menschen zum Suizid
gedrängt fühlen. Mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts ist die
emotional geführte Debatte um Möglichkeiten der assistierten
Selbsttötung nicht beendet. Viele Fragen sind jetzt offen. Aber die
Karlsruher Richter reißen am Mittwoch Schranken ein, die der Politik
ein Zurück nicht mehr erlauben. (Az. 2 BvR 2347/15 u.a.)
Worum genau geht es?
Im Dezember 2015 verbietet der Gesetzgeber Sterbehilfe als
Dienstleistung. Der neue Paragraf 217 im Strafgesetzbuch sieht bis zu
drei Jahre Haft vor. Strafbar macht sich, «wer in der Absicht, die
Selbsttötung eines anderen zu fördern, diesem hierzu geschäftsmäß
ig
die Gelegenheit gewährt, verschafft oder vermittelt». Das soll
professionellen Sterbehelfern das Handwerk legen, die tödliche
Medikamente stellen oder eine Sterbewohnung organisieren - oft gegen
Bezahlung. Sterbehilfe soll nicht gesellschaftsfähig werden.
Wie wirkt sich das Verbot aus?
Der umstrittene Hamburger Verein Sterbehilfe Deutschland von
Ex-Justizsenator Roger Kusch legt seine Aktivitäten weitgehend auf
Eis - und klagt. Bis 2015 hatten sich laut Vereinsstatistik 254
zahlende Mitglieder das Leben genommen. Schwerkranke Menschen, die
auf die Unterstützung von Sterbehilfe Deutschland und anderer
Suizidhelfer vertraut hatten, trifft das Verbot mit. Aus dem Wissen,
zur Not selbst die Reißleine ziehen zu können, habe er Kraft zum
Durchhalten geschöpft, sagt der krebskranke Horst L. im April 2019
als Kläger in der Verhandlung. Nun sei die Gelassenheit dahin.
Was haben die Verfassungsrichter entschieden?
Das Sterbehilfe-Verbot verstößt gegen das Grundgesetz. In einem enorm
weitgehenden Urteil arbeiten sie ein Recht des Einzelnen auf
selbstbestimmtes Sterben heraus. «Dieses Recht schließt die Freiheit
ein, sich das Leben zu nehmen», sagt Gerichtspräsident Andreas
Voßkuhle - und sich dafür Hilfe bei Dritten zu suchen. Ohne diese
Möglichkeit würde das Selbstbestimmungsrecht eines Menschen mit
Sterbewunsch nach Auffassung der Richter «faktisch weitgehend
entleert». Die Richter erklären Paragraf 217 deshalb für nichtig.
Anders als in den Niederlanden, Belgien und Luxemburg bleibt aktive
Sterbehilfe - also die Tötung auf Verlangen - aber verboten.
Warum ist das Urteil für manche ein Tabubruch?
Die Richter sagen ausdrücklich, dass Sterbehilfe-Angebote nicht
unheilbar Kranken vorbehalten sein dürfen. Das Recht, selbstbestimmt
zu sterben, besteht «in jeder Phase menschlicher Existenz», wie
Voßkuhle es formuliert. Dass jemand nicht mehr weiterleben möchte,
bedürfe keiner Rechtfertigung. Staat und Gesellschaft hätten das zu
respektieren. Das eröffnet selbst völlig gesunden Menschen die
Möglichkeit, Sterbehilfe in Anspruch zu nehmen. Außerdem legitimieren
die Richter de facto die Aktivitäten der Sterbehilfe-Vereine - mit
dem Argument, dass Sterbewillige anderswo keine Unterstützung finden.
Wie reagieren die Sterbehelfer?
Bei einer eigens anberaumten Pressekonferenz in Karlsruhe feiert
Kusch den «wunderbaren Tag». «Wir können wieder genauso Sterbehilfe
leisten wie bis zum November 2015.» Der Verein hatte schon vorher ein
Schlupfloch gefunden und den Schweizer Ableger StHD gegründet. Seit
2018 konnten deutsche Sterbewillige einen Angehörigen nach Zürich
schicken, der mit tödlichem Medikament und «detaillierter Anleitung»
zurückkam. Denn Angehörige und «Nahestehende», die beim Suizid
helfen, blieben auch unter Paragraf 217 straffrei.
Welche Möglichkeiten bleiben der Politik?
Suizidprävention und palliativmedizinische Angebote können natürlich
ausgebaut werden, um Menschen mit Sterbewunsch einen anderen Weg
aufzuzeigen. Außerdem darf der Gesetzgeber die Sterbehilfe
regulieren. Die Richter sehen dafür «ein breites Spektrum an
Möglichkeiten». Beispielhaft nennen sie Aufklärungspflichten und eine
vorgeschriebene Wartezeit bis zum Vollzug. Suizidhelfer könnten ein
Zulassungsverfahren durchlaufen müssen. «Besonders gefahrträchtige
Erscheinungsformen der Suizidhilfe» dürften auch verboten werden.
Was bedeutet das Urteil für Ärzte?
Sie sind weiterhin nicht verpflichtet, Suizidhilfe zu leisten -
müssen aber keine Strafverfolgung mehr befürchten, wenn sie es aus
Überzeugung doch tun. Der Palliativmediziner Matthias Thöns, der
ebenfalls in Karlsruhe geklagt hat, ist erleichtert: «Ich kann
Patienten in verzweifelten und seltenen Situationen einen Ausweg
zeigen und muss sie nicht auf brutale Suizidmethoden verweisen.» Die
Bundesärztekammer ist nach wie vor der Auffassung, dass Beihilfe zum
Suizid «grundsätzlich nicht zu den Aufgaben von Ärztinnen und Ärzte
n»
gehört. Präsident Klaus Reinhardt kündigte aber «eine innerärztli
che
Debatte zur Anpassung des ärztlichen Berufsrechts» an. Hier haben die
Verfassungsrichter die notwendigen Änderungen angemahnt.
Welche Fragen stellen sich nach dem Urteil noch?
Das Bundesverwaltungsgericht hat 2017 ein aufsehenerregendes Urteil
gesprochen: «Im extremen Einzelfall» dürfe der Staat einem unheilbar
Kranken ein Betäubungsmittel nicht verwehren, das diesem «eine
würdige und schmerzlose Selbsttötung ermöglicht». Das war nicht
Bestandteil des Karlsruher Verfahrens. Unter Verweis auf Paragraf 217
lässt Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) aber seit Jahren das
zuständige Bundesinstitut sämtliche Anträge kranker Menschen ablehnen
- inzwischen mehr als 100. Diese Linie will Spahn auch jetzt weiter
beibehalten. Bis die nächste Entscheidung da ist: Nach Klagen
abgelehnter Antragsteller hat das Verwaltungsgericht Köln mehrere
Verfahren ausgesetzt - und die Fälle in Karlsruhe vorgelegt.
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