Wie eine Studie in Gangelt dem Land aus der Corona-Krise helfen soll Von Jonas-Erik Schmidt, dpa

Der Kreis Heinsberg gilt als Epizentrum des Coronavirus-Ausbruchs in
Deutschland. Im Kleinen lässt sich daher beobachten, was im großen
Land noch droht. Forscher wollen sich das zunutze machen. Der
Studienchef nennt es allerdings eine «Art Harakiri-Aktion».

Heinsberg/Bonn - Wenn man Hendrik Streeck fragt, warum er Virologe
geworden ist, hat er eine fast klischeehafte Antwort parat: «Ich bin
mal Virologe geworden, weil ich den Film «Outbreak» mit Dustin
Hoffman so toll fand.» In dem Hollywood-Klassiker von 1995 bricht
eine Ebola-Variante aus. Hoffman kämpft für eine Kleinstadt, die zur
Begrenzung der Epidemie ausgelöscht werden soll. «Outbreak» ist ein
Film darüber, wie im Kampf gegen ein Virus Helden geboren werden.

Streeck, Virologe von der Uni Bonn, hat nun seine eigene Kleinstadt,
sie heißt Gangelt, liegt im Kreis Heinsberg und gilt als Epizentrum
des Coronavirus-Ausbruchs - der erste bestätige Corona-Patienten in
NRW kommt von dort. Vieles, was woanders noch droht, hat die
«Erstregion» bereits erlebt. Streeck wird sie für eine Studie nun
genau untersuchen - um zu ergründen, was Deutschland dort tief im
Westen lernen kann. Wie kommt man aus der Corona-Krise? Wann können
Einschränkungen des öffentlichen Lebens gelockert werden? Es sind die
großen Fragen dieser Zeit. Wenn es klappt, ist Streeck ein Held.

«Wenn die Politik Maßnahmen lockert, während noch die Zahl der
Infektionen steigt, kann man damit nicht gewinnen», erklärt der
Forscher der Deutschen Presse-Agentur das Dilemma. «Der einzige Weg
daraus sind Fakten. Man muss wissen, wie viele Menschen sowieso schon
infiziert sind. Man muss wissen, welche Einrichtungen besonders
geschützt werden müssen», sagt er. «Und das versuchen wir nun in se
hr
kurzer Zeit in einer Art Harakiri-Aktion herauszufinden.»

Praktisch bedeutet das laut Streeck, dass mit Hilfe des
Einwohnermeldeamtes 500 Familien repräsentativ ausgesucht wurden. Sie
sollen in einem improvisierten Studienzentrum in einer Schule
untersucht werden - mit einer Blutuntersuchung, einem Rachenabstrich
und einem umfassenden Fragebogen. Hatte man gesundheitliche
Beschwerden? Mit wem hatte man Kontakt und wie eng war dieser? Wie
verliefen die Infektionsketten? Die Familiengröße variiert, am Ende
sollen ungefähr 1000 Leute in der Stichprobe landen.

So soll ein relativ gutes Bild entstehen, wer mit dem neuartigen
Coronavirus infiziert wurde und wer nicht - und warum. Es geht darum,
die wohl hohe Dunkelziffer der Infizierten aufzuhellen. Gangelt ist
dafür perfekt geeignet. «Wir wissen ziemlich genau, wann das Virus in
den Ort gekommen ist - der 15. Februar, die Kappensitzung», sagt
Streeck. Auf dieser hatte der erste bestätigte NRW-Infizierte
gefeiert, auch weitere Erkrankungen standen in Verbindung zum
Karneval. Das ist auch eine Hypothese des Forschers.

«Es ist immer an Orten ausgebrochen, wo wild gefeiert wurde. In
Gangelt war es der Karneval, in Ischgl der Après-Ski, in Bergamo ein
Fußballspiel», sagt Streeck. «Es ist immer: Viele Menschen auf engem

Raum.» Die Kappensitzung werde man sich daher nochmals anschauen, er
hat sich die Teilnehmerliste besorgt. Vor allem interessiert ihn,
warum sich bestimmte Gäste dort gerade nicht angesteckt haben. «Es
ist ein bisschen wie Detektivarbeit.» Weitere Frage: Inwieweit
übertragen Kinder das Virus auf ihre Eltern? Die Information wäre
entscheidend, wenn man eines Tages die Schulen wieder öffnen will.

Die Fragen treiben Streeck, 42 Jahre alt und bei der Arbeit mitunter
in Sneakern unterwegs, nicht nur als Virologen um. Dazu hat er sich
auch schon entsprechend öffentlich geäußert. «Ich halte die
Einschnitte, die wir jetzt haben, für sehr drastisch. Da argumentiere
ich aber nicht als Virologe, sondern als Bürger», sagt er. Ihm fehle
die Verhältnismäßigkeit. «Es ist immer schlimm, wenn Menschen
sterben. Aber die Frage ist, ob man andere Existenzen gefährdet und
dadurch auch Leben aufs Spiel setzt.» Deswegen seien Fakten wichtig.

Fakten hat er bereits in seinem Team geschaffen - es ist auf rund 70
Leute angewachsen, zunächst war die Rede von 20. Schon in etwa zwei
Wochen will er erste Erkenntnisse vorlegen. «Wir machen alles
parallel», sagt Streeck. Wie viel arbeitet er momentan? Er antwortet:
«Wie viel ich schlafe, ist wohl die einfachere Frage.»