Der neue Corona-Brennpunkt: Lateinamerika Von Denis Düttmann, Nick Kaiser und Martina Farmbauer, dpa

Lateinamerika ist der neue Corona-Brennpunkt. Populistische
Staatschefs, chronisch unterfinanzierte Gesundheitssysteme und tiefe
Armut erschweren das Krisenmanagement. Trotzdem wollen einige Länder
die Maßnahmen schon wieder lockern.

Rio de Janeiro (dpa) - Während Europa erst einmal das Schlimmste
hinter sich hat und langsam zu so etwas wie Normalität zurückkehrt,
steuert die Corona-Pandemie in Lateinamerika auf einen Höhepunkt zu.
Die Infektionszahlen steigen rasant. Das Gesundheitswesen ist am
Limit. Die Wirtschaft liegt darnieder. Wie gehen die verschiedenen
Staaten mit der Krise um?

DIE ZAHLEN: Die Länder sind unterschiedlich stark betroffen.
Spitzenreiter ist Brasilien mit fast 800 000 nachgewiesenen
Infektionen und rund 40 000 Toten. In Peru haben sich offiziell mehr
als 200 000 Menschen infiziert, in Chile etwa 150 000. Mexiko meldet
rund 134 000 Infektionen und fast 16 000 Todesfälle. In Argentinien
hingegen ist die Lage mit gut 25 000 Infektionen und rund 700
Todesfällen noch weitgehend unter Kontrolle. Mancherorts wird
allerdings äußerst wenig getestet, so dass die tatsächlichen
Infektionszahlen viel höher liegen dürften.

DIE MASSNAHMEN: Die Regierungen haben ganz unterschiedlich auf die
Pandemie reagiert. Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro tut das Virus
als «leichte Grippe» ab. Er stemmt sich gegen jede Art von
Schutzmaßnahmen. Einige Bundesstaaten und Städte haben zwar
Ausgangssperren verhängt und die Schließung von Betrieben und
Geschäften angeordnet. Aber es wird schon wieder gelockert. Vor
Einkaufszentren in São Paulo bildeten sich lange Schlangen. Rio de
Janeiro erinnert auch schon wieder an die Tage vor der Pandemie.

In Mexiko rief die Regierung nach langem Zögern die Bevölkerung auf,
zu Hause zu bleiben - Pflicht ist das aber nicht. Manche Industrien
wurden als unerlässlich eingestuft, der Rest musste vorübergehend den
Betrieb einstellen. In Lebensmittelgeschäften gilt Maskenpflicht,
nicht aber in allen Behörden. Argentinien hingegen verhängte bereits
Mitte März eine weitgehende Ausgangssperre, die zumindest im Großraum
Buenos Aires noch bis heute gilt.

DIE BEVÖLKERUNG: Die Akzeptanz der Maßnahmen hängt auch von der
wirtschaftlichen Lage ab. In Peru gelten sehr strenge
Ausgangsbeschränkungen, trotzdem verzeichnet der Andenstaat nach
Brasilien die meisten Infektionen. Dort - wie auch in Mexiko und
anderswo - sind viele Menschen im informellen Sektor beschäftigt.
Schuhputzer, Müllsammler, fliegende Händler und Tagelöhner können e
s
sich oft nicht leisten, zu Hause zu bleiben. In Brasilien waren trotz
Ausgangssperren Märkte noch voll. Die Argentinier respektierten die
Beschränkungen anfangs. Nach fast drei Monaten sind allerdings viele
mit der Geduld am Ende.

WIRTSCHAFTLICHE FOLGEN: Sie sind verheerend. Die Weltbank sagt für
dieses Jahr einen Rückgang der Wirtschaftskraft um 7,2 Prozent
voraus. Die Folgen der Rezession dürften in Lateinamerika dramatisch
ausfallen, weil es kaum soziale Sicherungssysteme gibt. Die
Organisation Aktion gegen den Hunger fürchtet, dass fast 30 Millionen
Menschen in die Armut stürzen könnten. So lockern manche Länder - wie

Brasilien, Kolumbien, Mexiko und Honduras - aus wirtschaftlichen
Gründen bereits ihre Maßnahmen, obwohl die Kurven weiter steigen.
Einigen Ländern fehlt es an Geld, ihre Wirtschaft anzukurbeln.

In Mexiko - zweitgrößte Wirtschaft Lateinamerikas nach Brasilien -
bleibt die Regierung bei ihrer Sparpolitik. Das ohnehin
unterfinanzierte Gesundheitssystem ist an seinen Grenzen. Ärzte in
Krankenhäusern müssen Schutzausrüstung selbst kaufen. Argentinien
versucht, die größten Härten abzufedern. Neun Millionen Menschen, die

arbeitslos sind, im informellen Sektor arbeiten oder nur sehr wenig
verdienen, erhalten pro Monat 10 000 Peso (rund 130 Euro)
Staatshilfe. Kleinunternehmern werden zinslose Kredite gewährt.

DIE PRÄSIDENTEN: Nicht alle werden ihrer Vorbildfunktion in der
Pandemie gerecht. Während sich Argentiniens Staatschef Alberto
Fernández als besonnener Krisenmanager gibt, schlägt der Brasiliens
Präsident Bolsonaro alle Warnungen in den Wind. Er lässt sich von
Anhängern feiern - Selfies ohne Maske inklusive. Mexikos Präsident
Andrés Manuel López Obrador behauptet entgegen der Statistiken seiner
eigenen Regierung schon seit einem Monat, die Infektionskurve sei in
Mexiko abgeflacht. Mit Mundschutz sieht man den Linkspopulisten nie.

GRENZEN UND TOURISMUS: In Lateinamerika sind die Grenzen weitgehend
dicht. Auf dem Landweg dürfen lediglich Gütertransporte die Grenzen
passieren. Auch Flüge sind in einigen Ländern noch möglich.
Allerdings wollen erste Länder wie Kuba bereits bald ihre Grenzen
wieder öffnen. Dahinter dürften handfeste wirtschaftliche Interessen
stecken: In Mexiko, der Dominikanischen Republik und vielen anderen
Karibikstaaten gehört der Tourismus zu den wichtigsten
Wirtschaftszweigen. Costa Rica und Kolumbien wollen im Ökotourismus
Beschäftigte erst einmal in anderen, «grünen» Jobs unterbringen.

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