Reichsflagge und Hippies - Tausende in Berlin gegen Corona-Auflagen Von Björn Graas und Gerd Roth, dpa
Unter Reichsflaggen und Protestschildern demonstrieren Tausende in
Berlin gegen die staatliche Corona-Auflagen. Hygienemaßnahmen wie
Abstand und Masken werden weitgehend ignoriert - das bringt
schließlich die Polizei auf den Plan.
Berlin (dpa) - Kaum Abstand, Masken praktisch nicht zu sehen -
jenseits von Vorschriften und Erkenntnissen haben am Samstag in
Berlin Tausende Menschen gegen die staatlichen Maßnahmen zur
Eindämmung der Corona-Pandemie protestiert. Bereits die Demonstration
wurde nach stundenlanger Missachtung der Hygieneregeln vom
Veranstalter für beendet erklärt, bei der anschließenden Kundgebung
sorgte dann die Polizei für das von Unmutsäußerungen begleitete Aus.
Die Veranstalter seien nicht in der Lage, die Hygienemaßnahmen
einzuhalten, sagte ein Polizeisprecher.
Nach Schätzungen der Polizei schlossen sich bis zu 17 000 Menschen
dem Demonstrationszug an, der sich seit dem Vormittag formierte. Rund
20 000 waren es danach bei der Kundgebung. Diese Zahlen scheinen mit
Blick auf Eindrücke unabhängiger Journalisten und Auswertung von
Foto- und Videomaterial nachvollziehbar. Auf der Veranstaltungsbühne
war von 1,3 Millionen Teilnehmern die Rede.
Die Demonstranten forderten ein Ende aller Auflagen. Zu den Protesten
unter dem Motto «Das Ende der Pandemie - Tag der Freiheit» hatte die
Initiative «Querdenken 711» aufgerufen. In Stuttgart hat diese
Initiative bereits wiederholt demonstriert. Kritiker dieser Proteste
befürchten eine Vereinnahmung durch Verschwörungstheoretiker und
Rechtspopulisten. Den Titel «Tag der Freiheit» trägt auch ein
Propagandafilm der Nazi-Ikone Leni Riefenstahl über den Parteitag der
NSDAP 1935.
So war in Berlin auch die von Rechtsextremen häufig verwendete
schwarz-weiß-rote Reichsflagge zu sehen. Daneben wehten Deutschland-
und Friedensfahnen mit Taube oder Regenbogen über den Köpfen der
Teilnehmer, von deren Seite «Wir sind das Volk», «Reiht euch ein»,
«Wir kämpfen für eure Freiheit» oder «Widerstand» skandiert wur
de.
Passanten mit Mund-Nase-Schutz wurden teils aggressiv aufgefordert,
ihre Masken wegzunehmen. Auch Journalisten wurden angegangen. Die
ZDF-Journalistin Dunja Hayali etwa brach Dreharbeiten auf Anraten
ihres Security-Teams ab. Auf einem von Hayali auf Instagram
geposteten Video ist zu sehen, wie Demo-Teilnehmer ihr und ihrem Team
«Lügenpresse» und «Schämt euch» entgegenrufen.
Auch Passanten reagierten. «Ihr seid solche Trottel» wurde den
Demonstranten per Schild entgegengehalten. An mehreren Stellen wurden
Protestzug und Gegendemonstranten von Polizeieinheiten abgeschirmt.
An einer Stelle waren es mehrere Hundert Menschen, die sich gegen den
Protestzug stellten. «Omas gegen rechts» riefen dem Zug «Nazis raus
»
entgegen, der Spruch schallte als Echo zurück.
Bei der anschließenden Kundgebung schienen sich Hippies,
Rechtsextreme und selbst ernannte Bürgerrechtler bunt zu mischen -
auch hier ohne Abstand und Masken. Michael Ballweg, Gründer der
Initiative, sagte zum umjubelten Auftakt: «Das Freiheitsvirus hat
Berlin erreicht.» Streckenweise erinnerte die Veranstaltung an ein
Happening zwischen mitgebrachten Decken, Picknick und
Camping-Stühlen. Auch dort ging es gegen «Mainstream-Medien», die
«euch jeden Tag belügen», und gegen die verantwortliche Politik.
Der Polizei war das alles schließlich zu eng und zu wenig Hygiene:
Die Kundgebung wurde für beendet erklärt. Unter Pfeifkonzerten und
Buhrufen wurden Teilnehmer mehrfach zur Heimkehr aufgefordert. Als
Beamte begannen, die Menge aufzulösen, wurden sie zum Widerstand
aufgefordert: «Verweigert den Befehl! Vor euch steht das Volk.»
Einige Tausend Demonstranten wichen zeitweise vor das benachbarte
Reichstagsgebäude und das Bundeskanzleramt aus. Insgesamt zog sich
die Auflösung bis weit in den Abend.
Doch damit war die Arbeit der Polizei für diesen Tag noch längst
nicht beendet: Aus Protest gegen die Räumung einer linken
Szene-Kneipe versammelten sich nach Schätzungen der Einsatzkräfte am
Abend rund 2500 Personen aus der linken Szene zu einem Aufzug in
Berlin-Neukölln. Dabei kam es zu heftigen Ausschreitungen. Wie die
Polizei mitteilte, griffen teils Vermummte Polizeikräfte an, bewarfen
sie mit Steinen und Flaschen, errichteten Barrikaden und zündeten
Pyrotechnik. Mehrere Polizisten wurden verletzt, drei von ihnen
wurden ins Krankenhaus gebracht, weil sie etwa durch Glassplitter im
Gesicht verletzt wurden. Mehrere Personen wurden festgenommen.
Später am Abend setzten sich die Krawalle dann am Prenzlauer Berg
fort. Laut Polizei versammelten sich erneut rund 200 Personen,
errichteten weitere Barrikaden und warfen wieder Steine und Flaschen.
Die Polizei nahm drei Personen fest. Der Berliner «Tagesspiegel»
wertete den Aufzug in Neukölln als eine der größten Demonstrationen
der linksautonomen Szene der vergangenen Jahre.
Die Polizei bilanzierte das Geschehen am Sonntag nur zusammen mit
anderen Demonstrationen. Danach gab es in Berlin insgesamt 133
Festnahmen. Es wurden 89 Strafermittlungs- und 36
Ordnungswidrigkeitsverfahren eingeleitet. Dabei geht es um Widerstand
gegen Vollstreckungsbeamte, Landfriedensbruch, schweren
Landfriedensbruch, Zusammenrottung oder Verwenden von Kennzeichen
verfassungswidriger Organisationen. Bei den Aktionen seien 45
Polizeikräfte verletzt worden. Auch hier blieb offen, bei welchen
Einsätzen im einzelnen.
Reaktionen der Politik lassen sich mit «unverantwortlich»
zusammenfassen. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) schrieb
auf Twitter: «Ja, Demonstrationen müssen auch in Corona-Zeiten
möglich sein. Aber nicht so.» Die SPD-Vorsitzende Saskia Esken
schrieb: «Tausende Covidioten feiern sich in Berlin als «die zweite
Welle», ohne Abstand, ohne Maske.» Linken-Chefin Katja Kipping sprach
im ZDF-«Sommerinterview» von einem «Aufruf zur Rücksichtslosigkeit
».
Der italienische EU-Kommissar Paolo Gentiloni twitterte, eine solche
Idee von Freiheit sei nicht zum Lachen. «Das ist beängstigend.»
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