Deutschland stoppt vorsorglich Astrazeneca-Impfungen Von Sascha Meyer, Basil Wegener und Steffen Trumpf, dpa

Schwerer Rückschlag für Deutschlands Impfkampagne: Das Impfen mit dem
Präparat von Astrazeneca ist vorerst gestoppt. Ob der Impfstoff
wieder zum Einsatz kommt, ist ungewiss. Das geplante
Bund/Länder-Treffen zum Impfen soll wohl verschoben werden.

Berlin (dpa) - Deutschland setzt die Corona-Impfungen mit dem
Präparat von Astrazeneca vorerst aus. Bundesgesundheitsminister Jens
Spahn (CDU) sprach am Montag von einer «reinen Vorsichtsmaßnahme», um

gesundheitliche Komplikationen in seltenen Fällen wissenschaftlich zu
überprüfen. Die meisten Bundesländer kündigten daraufhin an, die
Impfungen mit Astrazeneca unverzüglich einzustellen. Bereits
vereinbarte Termine sollten in vielen Fällen abgesagt werden. Das für
Mittwoch geplante Spitzentreffen von Bund und Ländern zur
Impfstrategie soll nach Informationen der Deutschen Presse-Agentur
voraussichtlich verschoben werden.

Spahn erläuterte, die Entscheidung gehe auf sieben Fälle zurück, bei

denen Thrombosen der Hirnvenen im zeitlichen Zusammenhang mit der
Impfung stünden. «Es ist sehr selten aufgetreten», sagte er und wies

darauf hin, dass hierzulande mittlerweile über 1,6 Millionen
Impfungen mit dem Astrazeneca-Impfstoff verabreicht wurden. «Es geht
um ein sehr geringeres Risiko - aber, falls es tatsächlich im
Zusammenhang mit der Impfung stehen sollte, um ein
überdurchschnittliches Risiko.»

Den vorläufigen Stopp empfohlen hatte das zuständige
Paul-Ehrlich-Institut. Bei der Analyse neuer Daten sehe man eine
auffällige Häufung einer speziellen Form von sehr seltenen Thrombosen
in Hirnvenen in Verbindung mit einem Mangel an Blutplättchen
(Thrombozytopenie) und Blutungen in zeitlicher Nähe zu Impfungen mit
Astrazeneca, so das Institut. Die Daten würden von der Europäischen
Arzneimittelagentur (EMA) weiter analysiert und bewertet.

Ein ursächlicher Zusammenhang zwischen Impfung und Thrombose war
bisher in keinem Fall festgestellt worden. Dies war auch in anderen
Staaten betont worden, die die Impfungen bis zum Abschluss von
Prüfungen vorsorglich aussetzten. «Astrazeneca wird in vielen Ländern

der Welt millionenfach verimpft», sagte Spahn. «Es ist eine fachliche
Entscheidung und keine politische», versicherte er.

Das Aussetzen von Astrazeneca-Impfungen ist aus Sicht der
Weltgesundheitsorganisation (WHO) noch kein Alarmzeichen. Die
Vorfälle seien nicht notwendigerweise aufs Impfen zurückzuführen,
sagte WHO-Chef Tedros Adhanom Ghebreyesus in Genf. «Es ist eine
Routine-Praxis, das zu untersuchen.» Außerdem zeige es, dass das
Überwachungssystem funktioniere und wirksame Kontrollen stattfänden.

In Deutschland erlebt die Impfkampagne mit dem Schritt einen
empfindlichen Rückschlag. Bis Sonntag waren laut Robert Koch-Institut
1,65 Millionen Dosen Astrazeneca-Impfstoff in Deutschland verabreicht
worden. Insgesamt wurden 9,4 Millionen Dosen gespritzt - außer von
Astrazeneca kommen die Präparate von Biontech/Pfizer und Moderna zum
Einsatz.

Bis auf wenige hundert Fälle betreffen alle Astrazeneca-Impfungen die
erste von zwei für den Impfschutz nötige Impfungen. Die Aussetzung
betreffe nun auch alle Folgeimpfungen, sagte Spahn.

Nun ist die EMA am Zug. Dort wird an einer erneuerten Bewertung des
Impfstoffs des britisch-schwedischen Pharmakonzerns gearbeitet. Die
Sicherheitsexperten wollten am Donnerstag über mögliche weitere
Schritte entscheiden, teilte die EMA in Amsterdam mit. Die dpa erfuhr
am Montagabend aus mit den Vorgängen befassten Kreisen zum
ursprünglich für Mittwoch geplanten «Impfgipfel» von Kanzlerin Ange
la
Merkel und den Ministerpräsidenten der Länder, es sei davon
auszugehen, dass erst die EMA-Entscheidung am Donnerstag abgewartet
werde. Spahn sagte, falls der Impfstoff zugelassen bleibe, wolle man
für die Impfungen auch wieder werben.

Die EMA hält vorerst daran fest, dass die Impfungen fortgesetzt
werden könnten. Die Vorteile durch den Schutz vieler Menschen vor
einer schweren Covid-19-Erkrankung seien höher einzuschätzen als die
Risiken möglicher Nebenwirkungen. Bereits vergangene Woche hatte die
EU-Behörde erklärt, dass es keine auffällige Häufung von Thrombosen

im zeitlichen Zusammenhang mit der Impfung gebe. Der Anteil der
Thrombose-Kranken nach einer Impfung mit dem Präparat entspricht
demnach dem spontanen Auftreten dieser Erkrankung in der
Normalbevölkerung.

Laut dem zuständigen Paul-Ehrlich-Institut solle man sich in
ärztliche Behandlung begeben, wenn man sich mehr als vier Tage nach
der Impfung unwohl fühlen sollte, etwa mit starken oder anhaltenden
Kopfschmerzen oder punktförmigen Hautblutungen.

Die Auswirkungen auf die Impfkampagne müssten nun geprüft werden,
kündigte Spahn an. Seit den Beratungen des PEI unter anderem mit
Thrombose-Experten vom Mittag sei dazu zunächst noch keine Zeit
gewesen.

Der SPD-Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach kritisierte den
Impfstopp: «Das schafft nur große Verunsicherung und Misstrauen in
einer Situation, in der es auf jede Impfung ankommt», sagte
Lauterbach der «Rheinischen Post» (Dienstag).

Der designierte Hauptgeschäftsführer der Krankenhausgesellschaft,
Gerald Gaß, sagte dem Redaktionsnetzwerk Deutschland, für die
Kliniken sei die Lage jetzt schwierig. «Wir haben es geschafft, dass
70 bis 80 Prozent der Mitarbeiter impfbereit sind. Eine solche
Entscheidung zu AstraZeneca kann das zunichtemachen.»

Ärztepräsident Klaus Reinhardt nannte die Aussetzung dagegen «richtig

und wichtig». Schnelle Klärung und völlige Transparenz seien wichtig.

«Ansonsten geht Vertrauen verloren.»

ASTRAZENECA-STOPP IN ANDEREN STAATEN:

Den Anfang machte Dänemark. Die Impfungen mit dem Mittel wurden
vergangene Woche für zunächst 14 Tage gestoppt. Hintergrund waren
mehrere Fälle von Blutgerinnseln bei geimpften Personen, darunter ein
Todesfall. Auch Norwegen hatte die Astrazeneca-Spritzen ausgesetzt.
Die Niederlande setzte die Impfungen ebenfalls aus.
Gesundheitsminister Hugo de Jonge teilte am Sonntag mit: «Wir müssen
immer auf Nummer sicher gehen.» Italien stoppte die Verabreichung des
Impfstoffes von Astrazeneca am Montag landesweit. Zuvor habe
Gesundheitsminister Roberto Speranza auch mit seinen Amtskollegen in
Spanien, Frankreich und Deutschland gesprochen. In Italien waren in
der vergangenen Woche und am Wochenende Menschen gestorben, die zuvor
mit dem Vakzin von Astrazeneca geimpft worden waren. Auch Frankreich
vollzog einen vorläufigen Stopp bis zur erwarteten EMA-Einschätzung -
auch hier eine reine «Vorsichtsmaßnahme», wie Frankreichs Präsident

Emmanuel Macron sagte.

FORTSETZUNG DER ASTRAZENECA-IMPFUNGEN:

Großbritannien nutzt den Impfstoff weiter. «Wir prüfen die Berichte
genau, aber angesichts der großen Anzahl verabreichter Dosen und der
Häufigkeit, mit der Blutgerinnsel auf natürliche Weise auftreten
können, deuten die verfügbaren Beweise nicht darauf hin, dass der
Impfstoff die Ursache ist», sagte Phil Bryan von der britischen
Aufsichtsbehörde für Arzneimittel (MHRA). Astrazeneca selbst hatte
nach einer Analyse von Impfdaten Zweifel die Sicherheit
zurückgewiesen. Sicherheitsdaten von mehr als 17 Millionen Geimpften
in der EU und Großbritannien hätten keine Belege für ein höheres
Risiko für Lungenembolien, tiefen Venenthrombosen und
Thrombozytopenie geliefert, so der Konzern am Sonntag in London.

Auch Tschechien und Polen setzen die Verabreichung des
Corona-Impfstoffs vorerst nicht aus. «Der positive Nutzen des
Impfstoffs ist unleugbar - und es gibt keinen Grund für
Befürchtungen», sagte Gesundheitsminister Jan Blatny.

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