Per Beckenboden einen Cursor steuern: neue Lösungen für alte Probleme Von Sandra Trauner, dpa
Millionen Frauen leiden unter einem schwachen Beckenboden. Häufig ist
eine Geburt die Ursache, Inkontinenz die unangenehme Folge. Aber es
gibt Hilfe. Mit neuen Geräten kann Beckenbodentraining sogar Spaß
machen. Positiver Nebeneffekt für das Liebesleben inclusive.
Frankfurt/Main (dpa) - Oscar-Preisträgerin Kate Winslet berichtet in
einer Talkshow, dass sie nach drei Geburten an Inkontinenz leidet.
TV-Promi Amira Pocher wirbt für Beckenbodenübungen,
Sachbuch-Bestsellerautorin Sheila de Liz postet Videos über den
«Sexmuskel» auf Youtube. Ein Trainingsgerät mit App-gesteuerten
Spielen für den Unterleib flutet die Social-Media-Kanäle. Der
Beckenboden - das bestätigen auch Gynäkologen - ist nach Jahrzehnten
des verschämten Verschweigens auf dem Weg zum It-Thema.
Der Beckenboden besteht aus mehreren Muskeln und Bindegewebe. Er
schließt den Bauchraum nach unten ab und ist wie eine Hängematte an
den Rändern nach oben gebogen. Vorn ist er am Schambeinknochen,
hinten am Steißbein und seitlich an den Sitzbeinhöckern befestigt. In
der Mitte ist bei Frauen eine Öffnung, die sich für eine Geburt
weiten kann. Nach oben hält der Beckenboden die Blase, die
Gebärmutter und den Enddarm, nach unten umschließt er die Harnröhre,
die Scheide und den Darm.
Wenn die Kraft des Beckenbodenmuskels nachlässt, können medizinische
Probleme auftreten. Die häufigsten sind Beckenbodenschwäche und
Beckenbodensenkung. Eine Folge davon ist, dass Frauen den Urin nicht
mehr gut halten können. Dazu kommen negative Auswirkungen auf die
Sexualität.
Harninkontinenz ist laut Deutscher Gesellschaft für Gynäkologie und
Geburtshilfe (DGGG) «ein schwerwiegendes Gesundheitsproblem bei
Frauen aller Altersklassen», wie es in der erst 2022 verabschiedeten
Leitlinie zur Behandlung weiblicher Inkontinenz heißt. Wie groß die
Zahl der Betroffenen ist, ist unklar. Die Fachgesellschaft geht davon
aus, dass es bei dem heiklen Thema eine hohe Dunkelziffer gibt.
Laut DGGG steigt die Zahl der betroffenen Frauen mit zunehmendem
Alter. Bei einer Umfrage 2005 sagten 7,8 Prozent der unter
40-Jährigen, aber 27,1 Prozent der über 60-Jährigen, dass sie nicht
immer den Urin halten können. Eine deutsch-dänische Studie von 2017
geht davon aus, dass 48,3 Prozent aller Frauen betroffen sind.
Thomas Fink, Leiter des Beckenbodenzentrums im Sana Klinikum Berlin
Lichtenberg, erklärt die häufigsten Formen: Bei einer
«Belastungsinkontinenz» verliert man unwillkürlich Harn beim Husten,
Niesen oder Sport. Bei einer «Dranginkontinenz» muss man ganz
plötzlich. Passiert beides, heißt das «Mischharninkontinenz».
Häufige Ursache sei die Geburt eines Kindes, erklärt der
Urogynäkologe - ein Schnittstellen-Fachgebiet zwischen Gynäkologie
und Urologie. «Wie die Geburt läuft, ist entscheidend dafür, wie gro
ß
das Risiko ist, später ein Beckenbodenleiden zu entwickeln.»
Problematisch ist etwa, wenn das Kind sehr groß und schwer ist oder
wenn eine Zange zum Einsatz kam. Weitere Risikofaktoren sind schweres
Heben, Übergewicht, Rauchen sowie das Alter bei der ersten Geburt.
Die Geburtshilfe habe das Thema lange Zeit nicht so im Fokus gehabt,
meint Fink, der Hebammen im Studium über «beckenbodenfreundliche
Geburten» fortbildet. Nach der Geburt werde der Beckenboden nur dann
näher untersucht, wenn schwere Schäden vermutet werden, zum Beispiel
dass er abgerissen ist. Dabei ist jede Geburt eine Belastung: «Bei
einer Geburt werden Teile des Beckenbodes um das Dreifache überdehnt.
Bis Symptome auftreten, kann es aber Jahre oder sogar Jahrzehnte
dauern», erklärt Fink.
Wie wichtig es ist, nach einer Geburt den Beckenboden wieder fit zu
machen, betont auch die Wiesbadener Gynäkologin Sheila de Liz, die
mit ihrem Buch «Unverschämt - Alles über den fabelhaften weiblichen
Körper» (Rowohlt 2019) Themen der Frauenheilkunde
populärwissenschaftlich aufbereitet und aus der Tabuzone geholt hat.
In einem ihrer Youtube-Videos erklärt sie: «Es ist sehr wichtig, die
Beckenbodenmuskeln zu stärken, weil sie auch beim Sex eine Rolle
spielen.» Frauen, die einen guten Beckenboden hätten, könnten die
Vagina besser verengen. Dadurch spürten sich beide Partner mehr: «Die
Orgasmen werden viel intensiver bei einer gesunden und starken
Beckenbodenmuskulatur.»
Männer haben auch einen Beckenboden, er ist aber anders aufgebaut und
daher stabiler. Eine Beckenbodenschwäche bei Männern ist selten, wie
Fink berichtet. Manchmal tritt sie nach einer Prostataoperation auf.
Viele Männer wüssten gar nicht, dass sie einen Beckenboden haben,
könnten ihn nicht bewusst kontrahieren. «Dabei würden auch Männer v
on
Beckenbodentraining profitieren, etwa für die Potenz», sagt Fink.
Laut Leitlinie ist es bei Beckenbodenschäden Standard, «dass
nicht-chirurgische Therapien zuerst ausprobiert werden». In der Regel
wird dafür Physiotherapie verschrieben, bei der Frauen gezielte
Übungen zur Stärkung des Beckenbodens lernen. Auch Elektrostimulation
gehört zu den möglichen Maßnahmen. Ist der Schaden so schwer, dass
operiert werden muss, stehen laut Fink inzwischen mehrere Verfahren
zur Wahl. Entweder werde versucht, mit dem Eigengewebe den Schaden zu
reparieren. Oder, falls das zu schwach ist, könnten Bänder oder Netze
eingesetzt werden.
«Die Wissenschaft widmet dem Thema inzwischen mehr Aufmerksamkeit»,
sagt Fink. Dazu beigetragen hat seiner Meinung nach, dass
Ultraschallgeräte als wichtiges Diagnosewerkzeug immer besser werden
und Schäden häufiger diagnostiziert werden können. Unter dem Dach der
Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (DGGG) wurde
vor einigen Jahren eine eigene Arbeitsgemeinschaft für Urogynäkologie
und plastische Beckenbodenrekonstruktion (AGUB) gegründet.
Dass das Thema langsam aus der Schamecke herauskommt, zeigt sich auch
daran, wie offensiv hippe neue Gadgets in sozialen Medien beworben
werden. «Perifit» zum Beispiel, ein Produkt aus Frankreich, sieht aus
wie ein Dildo, ist aber ein medizinisches Gerät, das sich per
Bluetooth mit dem Handy koppelt. Per App kann die Nutzerin ihren
Beckenboden trainieren, indem sie mit der Unterleibsmuskulatur im
wahrsten Wortsinne spielt: Durch Kontraktion und Entspannung steuert
sie den Cursor durch das Spielfeld und sammelt Punkte.
Studien, was das bringt, kann der Hersteller nicht liefern: Man
arbeite daran, habe aber noch keine Ergebnisse. Sheila de Liz findet
solche Geräte «richtig gut». Die Idee dahinter - zu lernen, seine
eigene Beckenbodenkraft einzuschätzen und auszubauen - sei «klasse».
Allerdings sei das eher geeignet für Frauen, «die bereits mit ihrem
Beckenboden gut vertraut sind». Wer schwerwiegende
Beckenboden-Probleme habe, benötigte professionelle Unterstützung.
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