Klemens Wittig läuft und läuft - Mit 85 Jahren zum Weltrekord Von Gregor Bauernfeind und Dieter Menne , dpa

Klemens Wittig geht in Rente - und fängt mit dem Leistungssport an.
Er sammelt Titel und Rekorde, doch beim wichtigsten Rennen ist der
Sport Nebensache. Sein Beispiel lehrt: Es ist nie zu spät, mit dem
Rauchen aufzuhören und dem Laufen anzufangen.

Dortmund (dpa) - Klemens Wittig hat Weltmeistertitel gewonnen und
Rekorde errungen, doch bei seinem emotionalsten Rennen kommt der
Langstreckenläufer fast 50 Minuten nach dem Sieger ins Ziel. «Meine
Gefühle übermannten mich und ich musste meinen Tränen freien Lauf
lassen», erinnert er sich an den Morgen des 30. September 1990, als
er mit Tausenden anderen Sportlerinnen und Sportlern durchs
Brandenburger Tor in Berlin läuft. Es ist der
Wiedervereinigungsmarathon und auf den «überzeugten
Einheitsdeutschen» Wittig, der in jungen Jahren alleine aus der DDR
geflüchtet ist, wartet die Familie an der Marathonstrecke.

Wie ein Echo hätten die Schritte der Tausenden Läufer im Tor gehallt.
«Alle Haare stellten sich bei mir auf und ich bekam eine Gänsehaut
vom Kopf über den ganzen Körper bis hin zum kleinsten Zeh», schreibt

Wittig in seinen Erinnerungen. Das Ergebnis ist fast schon
Nebensache: Er läuft den Marathon in unter drei Stunden, für einen
Amateur eine starke Leistung. Aber es soll noch ein Jahrzehnt dauern,
bis seine Zeit kommt - dabei ist er damals schon 53.

Heute ist Wittig 85 und läuft und läuft wie ein Junger. Gut 50
Trainingskilometer spult er jede Woche ab. Und das in einem Tempo,
mit dem er auch jungen Hobbyläufern davonzieht. Auf einem Schrank in
seinem Haus im Dortmunder Vorort Brechten, in dem er seit 40 Jahren
lebt, hat er zig Pokale stehen. Die Medaillen hängen im Keller.
Wittig ist einer der erfolgreichsten Seniorensportler überhaupt. Mehr
als 150 Mal steht er bei Deutschen Meisterschaften, bei EMs und WMs
auf dem Treppchen. Sein jüngster Coup: Die 50.33 Minuten über 10
Kilometer Mitte November in Essen. Weltrekord in seiner Altersklasse.

Dabei hat Wittig in einem Alter überhaupt erst mit dem Laufen
angefangen, in dem die meisten Spitzensportler ihre aktive Karriere
schon wieder beendet haben. Zwar sei er immer ein «agiler Typ»
gewesen, erzählt er. Er spielt in jungen Jahren Fußball, Handball,
Tischtennis, fährt Rad, tanzt Folklore. Aber er raucht auch. Bis zu
zwei Schachteln Stuyvesant am Tag. Als er 1977 mit dem
Pfarrgemeinderat als Betreuer einer Ferienfreizeit an der Ostsee ist,
droht er beim Frühsport abgehängt zu werden. Also hört Wittig mit 39

Jahren mit dem Rauchen auf und fängt mit dem Laufen an.

In den nächsten zwei Jahrzehnten ist er starker Freizeitläufer,
schafft die Marathons in Berlin, New York und London innerhalb der
«magischen» drei Stunden. Auf Medaillen- und Rekordjagd geht er aber
noch nicht. Der Beruf nimmt viel Zeit in Anspruch. Vier Jahrzehnte
arbeitet Wittig in der Stahlindustrie, viele Jahre in leitender
Stellung. Der Job bringt ihn nach Venezuela, Mexiko, oder Paraguay.
«Ich bin beruflich und sportlich in alle Welt gekommen», sagt er.

Erst im Rentenalter steigt er voll ins Leistungstraining ein. 2001
wird er zum ersten Mal deutscher Meister. Aber Wittig will mehr.
Altersmilde gibt es bei ihm nicht, auch wenn das Verhältnis zu vielen
Konkurrenten freundschaftlich ist. «Ich will schon immer gewinnen»,
sagt er. Nach mehreren Erfolgen auf nationaler Bühne meldet er sich
2007 für die WM, eigentlich ohne sich große Hoffnungen zu machen.
Doch die gemeldeten Bestzeiten der Konkurrenten stellen sich alle als
schwächer heraus. «Plötzlich war ich der Favorit für den
Weltmeistertitel», erinnert sich Wittig. Den habe er sich dann auch
geholt, mit einem überraschenden Endspurt mit «Tunnelblick». Wittigs

Bilanz heute: 48 Mal Gold bei Deutschen Meisterschaften, 30 Mal
EM-Gold, 30 Mal WM-Gold in verschiedenen Disziplinen.

Wittig wird 1937 in Schlesien als fünftes von sechs Kindern geboren.
Nach dem Krieg flüchtet die Familie nach Brandenburg. Mit der DDR
habe er aber nicht viel zu tun haben wollen, erzählt er. Als Katholik
mit Mutter-Gottes-Kette fällt er auf. Als er mitbekommt, dass in
einem SED-Gremium über ihn gesprochen wurde, haut er 1958
kurzentschlossen über die offene Grenze nach Westberlin ab. Der
sterbenskranke Vater, seine Mutter und Geschwister bleiben zurück. 14
Jahre habe er gar nicht zu ihnen gekonnt, später nur «mit den ganzen
Schikanen» - auch deshalb sei der Wiedervereinigungsmarathon nach den
vielen Jahren der Trennung so wichtig für ihn, erzählt er.

Seniorensport findet in den Medien kaum statt. Einmal aber läuft
Wittig auf der ganz großen Bühne: Der Hessische Rundfunk bekommt mit,

dass er beim Frankfurt-Marathon 2017 einen Europarekord anpeilt. Nach
der Zielankunft der Top-Läufer bekommt er ein eigenes
Kamera-Begleitmotorrad. Ganz geheuer ist ihm der Rummel aber nicht:
Er will nicht direkt in die Kamera blicken, ist irritiert und stürzt
gut acht Kilometer vor dem Ziel. Dass er sich dabei das Schlüsselbein
bricht, merkt er erst viel später. Europarekord läuft er trotzdem.
Die Berichterstattung sei die bisher größte Aufmerksamkeit für einen

Seniorensportler gewesen, ist sich Wittig sicher.

Sport im Alter habe viele Vorteile, sagt der Sportwissenschaftler
Ingo Froböse. Herz-Kreislauf-Training sei ein Garant für Vitalität,
Selbstständigkeit und Energie im Alltag. Man sei belastbarer, weniger
ermüdet. Dazu kämen positive psychische Effekte durch
Erfolgserlebnisse. «Es lohnt sich immer zu beginnen. In jedem Alter
ist es möglich, besser zu werden», sagt er. Wichtig sei aber, sich
nicht zu überfordern. Im Alter brauche der Körper länger für die
Regeneration.

Der Sport habe ihm unvergessliche Momente gebracht, sagt Wittig.
«Viele Länder, die weite Welt. Und vor allen Dingen: Lebensqualität.

Ich kann aus dem Vollen schöpfen.» Mit seiner Frau Gerda, mit der er
fast 60 Jahre verheiratet ist, ist er viel gereist. Die beiden haben
zwei Töchter, mit einer Enkelin will Wittig demnächst gemeinsam bei
einem Lauf antreten. Er ist in der Kirchengemeinde aktiv und ist im
Alter lange Radtouren nach St. Petersburg oder Santiago de Compostela
gefahren. Ein weiteres Ziel: Das Nordkap. «Aber das ist eine harte
Sache. Mal gucken, ob das noch klappt», sagt er. Und Wittig denkt gar
nicht daran, mit dem Leistungssport aufzuhören. Für die WM Ende März

im polnischen Torun ist er in mehreren Disziplinen gemeldet. «Ziel
ist immer: Weltmeistertitel», sagt er.

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