Experten wollen Verbot von Marketingtricks der Babynahrungs-Industrie Von Christiane Oelrich, dpa

Stillen oder Fläschchen geben? Mit raffinierten Marketing-Tricks
versuche die Babymilchpulver-Industrie junge Mütter zu beeinflussen,
sagen Gesundheitsexperten. Sie verlangen nun hartes Durchgreifen.

Genf (dpa) - Mit umstrittenen Marketingtricks bringen
Babymilchpulver-Firmen junge Mütter nach Überzeugung von
Gesundheitsexperten vom Stillen ab. Das müsse gestoppt werden,
verlangen sie in einer Artikelserie in der Fachzeitschrift «The
Lancet». Nötig seien mehr Unterstützung für Mütter beim Stillen u
nd
ein internationaler Vertrag, der vor «ausbeuterischer Vermarktung»
schützt und den Firmen politische Lobbyarbeit verbietet.

Nach Angaben der Autorinnen und Autoren nutzen Hersteller die
Unsicherheit von Müttern zum Geschäftemachen aus. Sie erweckten den
Eindruck, dass Babys, die nicht durchschlafen oder Koliken haben, mit
künstlicher Babynahrung (Formula-Milch) besser versorgt würden als
mit Muttermilch. Dabei könnten solche Probleme oft mit Unterstützung
durch Fachpersonal gelöst werden. Gestillte Babys hätten ohne Zweifel
den besten Start ins Leben.

Die Weltgesundheitsorganisation WHO empfiehlt, Babys sechs Monate
lang ausschließlich zu stillen. Danach sollten Babys auch andere
Nahrung bekommen, aber mindestens bis zum zweiten Geburtstag weiter
gestillt werden. Der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte
empfiehlt in Deutschland vier bis sechs Monate voll zu stillen. «Wenn
ab vier Monaten auch Brei gegeben wird, ist die Gefahr geringer, dass
sich Nahrungsmittelallergien bilden», sagt Sprecher Jakob Maske der
dpa. In Ländern, in denen oft kein sauberes Wasser zum Anrühren zur
Verfügung stehe, sei längeres Stillen natürlich besser. Maske betont,

dass das Stillen nicht bei allen Mütter und Babys funktioniert. Auch
die freie Entscheidung, nicht zu stillen, werde nicht verurteilt.

«Das ganze Wunderwerk Muttermilch ist nicht nachahmbar», sagte
Mathilde Kersting, Leiterin des Forschungsdepartments Kinderernährung
an der Universität Bochum. Sie war nicht an den Artikeln beteiligt.
Babys könnten auch mit Formula-Milch sicher ernährt werden. Es
gelinge aber nicht, die bioaktiven Substanzen der Muttermilch, die
bei der Prägung des Immunsystems helfen, nachzubilden.

Die WHO hatte die Marketingpraktiken von Herstellern 2022 in
einem Bericht angeprangert und einen Umsatz von weltweit rund 55
Milliarden Dollar im Jahr genannt. Manchmal nähmen Mitarbeiterinnen
an Gruppen für junge Mütter in sozialen Medien teil. Sie schürten
dort Ängste, priesen Muttermilchersatzprodukte als Lösung und böten
kostenlose Proben an, ohne zu sagen, dass sie dafür bezahlt werden.

Die Schweizer Firma Nestlé weist solche Machenschaften von sich. Sie
ist nach Angaben von Branchendiensten mit rund 16 Prozent
Weltmarktanteil der größte Produzent von Babymilchpulver. «Wir
unterstützen die WHO-Empfehlung, Babys in den ersten sechs
Lebensmonaten ausschließlich zu stillen», teilte die Firma mit. Sie
mache weltweit keine Werbung für Milchpulver für bis zu sechs Monate
alte Babys und in 163 Ländern, darunter China, Indien und Indonesien,
auch nicht für bis zu zwölf Monate alte Babys.

Der WHO-Kodex zur Vermarktung von Muttermilchersatzprodukten von 1981
funktioniere nicht, schreiben die Autoren. Danach soll unter anderem
für solche Produkte nicht öffentlich geworben werden und es sollen
keine kostenlosen Proben an Mütter verteilt werden. Unter dem Druck
von Industrie-Lobbyisten hätten viele Regierungen den Kodex aber
nicht umgesetzt. In fast 100 Ländern werde er verletzt. In
Deutschland ist seit Februar 2022 eine EU-Verordnung in Kraft, die
auf dem WHO-Kodex beruht. «Wir brauchen einen strengeren
internationalen Vertrag über Werbung für Formula-Milch, der weltweit
gesetzlich umgesetzt wird», verlangte Mitautor David McCoy.

Nach Angaben der WHO werden weniger als die Hälfte der Babys weltweit
sechs Monate lang ausschließlich gestillt. In Deutschland sind es 13
Prozent, sagt Regina Ensenauer, Leiterin des Instituts für
Kinderernährung am Max-Rubner-Institut in Karlsruhe. Die
Milchpulverindustrie wachse, so die Studien-Autoren. Die Firmen sähen
in der Sorge von Eltern um ihre Babys eine Chance für
Geschäftemacherei, schrieb Autor Nigel Rollins von der WHO.

Frauen müssten beim Stillen gesellschaftlich stärker unterstützt
werden, etwa durch ausreichend Mutterschaftsurlaub, heißt es in «The
Lancet». Zudem müsse mehr Personal geschult werden, um Frauen nach
der Geburt stärker bei Problemen mit den Stillen zu unterstützen. Das
sei auch in Deutschland nötig, sagt Ensenauer: «Grundsätzlich ist es

so, dass das Stillen viel zu wenig Aufmerksamkeit erfährt.»

Die Zeitschrift betont, dass manche Frauen ihr Baby nicht stillen
können und auf Milchpulver angewiesen sind. Zudem könne jede Frau
frei entscheiden, wie sie ihr Baby ernährt. Es müsse aber
sichergestellt werden, dass die Mütter korrekte und unabhängige
Informationen erhalten, «frei vom Einfluss der Industrie».

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