«Wenn du jetzt nicht schläfst ...» - Nicht nur Schläge sind Gewalt Von Gisela Gross, dpa
Körperliche und emotionale Misshandlungen von Kindern können
weitreichende Folgen haben. Eine Studie sieht sogar Zusammenhänge mit
der Gesundheit der Kindeskinder. Eine Forscherin nennt Möglichkeiten,
den Kreislauf zu durchzubrechen.
Berlin (dpa) - Schläge. Tritte. Spritzendes Blut. Mit solchen Bildern
ist der Begriff Gewalt oft in erster Linie verbunden. Vor dem Tag der
gewaltfreien Erziehung am Sonntag wollen Fachleute dafür
sensibilisieren, dass weit mehr dahintersteckt. Der Kinderschutzbund
teilt mit, das Thema psychische Gewalt mit Plakaten in Großstädten im
Zuge der Kampagne «Gewalt ist mehr, als du denkst» in den Fokus zu
rücken.
Als solche zu werten sind demnach etwa Demütigungen und Drohungen wie
«Aus dir wird nie was.» Oder: «Wenn du jetzt nicht schläfst, dann
knallt es!» Es geht aber nicht nur um Worte: Unter anderem werden
auch längeres Anschweigen oder Ignorieren des Kindes, Isolieren zu
Hause («Du hast zwei Wochen Hausarrest!») und extremer Leistungsdruck
als psychische Gewalt eingestuft.
«Kinder nehmen nicht nur Schaden, wenn sie geschlagen werden», sagt
Claudia Buß, Professorin am Institut für Medizinische Psychologie der
Charité in Berlin. «Vernachlässigung und emotionaler Missbrauch
können sich ebenfalls negativ auswirken.» Viele seien betroffen:
Circa jedes dritte Kind werde Opfer von Misshandlung und/oder
Vernachlässigung.
Nicht nur die Betroffenen tragen diese Erfahrungen oft ein Leben lang
mit sich herum. Sie geben Risiken offenbar auch weiter. Forscher
blickten auf die Gesundheit der Folgegeneration und fanden
Zusammenhänge mit mütterlichen Missbrauchserfahrungen. Davon
berichtete ein Team um Buß im Fachblatt «The Lancet - Public Health».
Sie werteten Daten von über 4300 Mutter-Kind-Paaren aus.
Höhere Erkrankungsrisiken bei Kindern misshandelter Mütter
Die Nachkommen von Frauen, die als Kind missbraucht und/oder
vernachlässigt worden waren, hatten laut der Studie ein höheres
Risiko für verschiedene Erkrankungen: Vorstufen von Depression und
Angststörungen, das Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom ADHS, Autismus und
Asthma. Bei Töchtern dieser Mütter wurde zudem häufiger Übergewicht
festgestellt als bei deren Söhnen. Die Autoren können zwar nur
Zusammenhänge feststellen, den Missbrauch also nicht als direkte
Ursache der Erkrankungen nachweisen. Buß sieht die These der
Weitergabe von Risiken über Generationen hinweg aber auch durch
anderweitige Untersuchungen gestützt, etwa an Tieren.
«Die Forschung zeigt: Je schwerwiegender und je mehr verschiedene
Missbrauchs- und Vernachlässigungserfahrungen ein Kind macht, umso
schlimmer sind die gesundheitlichen Konsequenzen. Sowohl für das
Opfer selbst als auch für die nächste Generation», sagt die
Wissenschaftlerin. Sie fordert ein besseres Unterstützungssystem, um
Überforderung bei Eltern zu erkennen und im Idealfall gleich zwei
Generationen zu helfen. «Man weiß leider, dass Eltern, die ihre
Kinder misshandeln oder vernachlässigen, das häufig selbst erlebt
haben und damit überfordert sind. Statt ihnen die Schuld zuzuweisen,
muss man schauen, wie man diese Menschen maximal unterstützen kann.»
Mehr Unterstützung schon vor der Schwangerschaft gefordert
Auch wenn die genauen Mechanismen der Übertragung des Risikos auf die
folgende Generation noch nicht komplett entschlüsselt sind: Buß
schweben Hilfen möglichst schon vor der Schwangerschaft vor. «Die
Frage psychischer Belastungen müsste stärker in die generelle
medizinische Versorgung einbezogen werden, etwa in der Gynäkologie
und Kindermedizin.» So wie man Schwangeren zu gesunder Ernährung und
zum Stillen rate, müssten werdende Eltern über die Bedeutung ihrer
eigenen psychischen Gesundheit für eine gesunde Entwicklung des
Kindes aufgeklärt werden. Gerade bei Frauen, die zum ersten Mal
schwanger werden, könnten eigene Kindheitstraumata wieder hochkommen.
Bisher fehle der Raum, dies mit Fachkräften zu besprechen. «Wenn
Vorbeugung nicht gelingt, muss man Missbrauchsopfer in der Kindheit
so früh wie möglich erkennen und ihnen helfen. Je länger ein Kind in
so einer Situation ist und je länger es unter chronischem Stress
steht, desto schwerwiegender sind die Folgen», sagt Buß. Sie spricht
von drohenden biologischen Narben: sich verändernden Hirnstrukturen
und Veränderungen der langfristigen Regulation verschiedener Gene,
die Grundlage sein könnten für spätere gesundheitliche Folgen.
Bisher noch wenig Bewusstsein - was Eltern tun können
Eine Studie des Uniklinikums Ulm zu Einstellungen zu Körperstrafen
und elterlichem Erziehungsverhalten von 2020 zeigte, dass es in
Deutschland noch an Bewusstsein für das Thema mangelt. «Dass ein
moderner Gewaltbegriff auch emotionalen Druck, emotionale
Herabwürdigung und Gesten, die vor allem demütigen (eine Ohrfeige
oder ein Klaps auf den Po) miteinschließen, ist häufig nicht
verstanden worden.» Dabei führe psychische Gewalt zu nicht weniger
schlimmen Langzeitfolgen als körperliche und sexuelle Gewalt.
Für das Entstehen von Krankheiten jedoch müssen viele Faktoren
zusammenkommen, macht Buß klar. «Es ist nicht davon auszugehen, dass
ein Kind zerbricht oder krank wird, wenn es ab und zu erlebt, dass es
den Eltern nicht so gut geht.» Eltern seien nicht unfehlbar. Wichtig
sei ein Bewusstsein: «Wenn man als Eltern bemerkt, dass man sich im
Ton vergriffen hat, kann man sich beim Kind entschuldigen und die
Situation erklären.» Wer bei sich selbst eine dauerhafte Belastung
bemerke, solle sich Hilfe holen.
Die Beobachtungsstudie jedenfalls zeigt: Längst nicht jedes Kind
einer Mutter mit Misshandlungserfahrungen trägt gesundheitliche
Folgen davon. Das deutet auf teils vorliegende schützende Umstände
hin. Enge Bezugspersonen etwa, bei denen sich ein Kind sicher fühlt,
können aus Expertensicht Negativfolgen abpuffern.
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