Kind erstickt 1988 in Sack - Neuer Prozess beginnt in Frankfurt Von Jenny Tobien und Matthias Gerhart, dpa
Das Schicksal eines Vierjährigen erschüttert auch Jahrzehnte nach
dessen Tod. Eine mutmaßliche Sektenführerin muss sich nun zum zweiten
Mal wegen Mordes vor Gericht verantworten. Gelingt es, die
Tatumstände knapp 35 Jahre später zu rekonstruieren?
Frankfurt/Hanau (dpa) - Was genau geschah an einem heißen Augusttag
in Hanau im Jahr 1988? Warum starb ein vierjähriges Kind? Und wie
steht es um die Schuldfähigkeit der heute Angeklagten? Knapp 35 Jahre
nach dem Tod eines kleinen Jungen steht eine mutmaßliche
Sektenführerin zum zweiten Mal wegen Mordes vor Gericht. Die
75-Jährige wurde bereits im September 2020 vom Landgericht Hanau zu
lebenslanger Haft verurteilt - doch der Bundesgerichtshof kassierte
das Urteil im Zuge der Revision. Zuständig ist jetzt das Landgericht
Frankfurt am Main.
«Alles ist offen», erklärte der Vorsitzende Richter zum
Prozessauftakt am Donnerstag. «Wir haben eine komplett neue
Beweisaufnahme durchzuführen.» Die grauhaarige Angeklagte, die eine
übergroße Jacke und eine Corona-Maske unter ihrer Nase trug, schien
dem Richter aufmerksam zuzuhören, die formellen Fragen zu ihrer
Person beantwortete die ehemalige Krankenschwester mit dünner Stimme.
Wie in einem üblichen Verfahren wurde nach Abwicklung der Formalien
aus dem ursprünglichen Anklagesatz verlesen: Demnach soll die heute
75-Jährige den Jungen in den Mittagsstunden des 17. August 1988 «aus
niedrigen Beweggründen und grausam» getötet haben.
Der Vierjährige befand sich demnach in ihrer alleinigen Obhut. Laut
der Anklage schnürte die Frau das Kind vollständig in einen
Leinensack ein, brachte es in ihr Badezimmer zum Mittagschlaf - und
überließ es demnach seinem Schicksal. Die mutmaßliche Sektenführeri
n
soll in dem Jungen eine «Reinkarnation Hitlers» und ihn als «von den
Dunklen besessen» angesehen haben.
Der Anklage zufolge hatte die Frau trotz einer Außentemperatur von 32
Grad die Luftzufuhr verringert und das Fenster geschlossen. Auf
Schreie des Jungen soll sie erwidert haben, er könne das
«Schaugebrüll» sein lassen, alle seien fort. Sie gehe nun raus in den
Garten, «es hört dich keiner». Der Vierjährige sei nach einem
«erbitterten Todeskampf» gestorben und die Frau habe ihr
niederträchtiges Ziel erreicht, hieß es.
Das Kind soll an seinem Erbrochenen erstickt sein. Jahrzehntelang
waren Polizei und Staatsanwaltschaft von einem Unfall ausgegangen,
bis Sektenaussteiger 2015 ein neues Licht auf den Fall warfen und es
schließlich zum ersten Prozess vor dem Landgericht Hanau kam.
Der Bundesgerichtshof kritisierte jedoch die damalige Verurteilung:
So sei die Schuldfähigkeit der Angeklagten nicht ausreichend geprüft
worden. Darüber hinaus fehlten Angaben zu einem Tatvorsatz, wie es
hieß. Man wisse nicht, was in ihr zum Tatzeitpunkt tatsächlich
vorgegangen sei. Auch am Donnerstag im Gerichtssaal blieb völlig
unersichtlich, was die Frau bei der Verlesung des Anklagesatzes
dachte.
Für die Prozessbeteiligten wird das Verfahren keine einfache Aufgabe.
«Das Besondere ist natürlich, dass alles so lange her ist», sagte die
Frankfurter Staatsanwältin Miriam Haßbecker. Es seien «viele Jahre,
die zurückliegen und die eine Beweisführung schwierig machen - weil
Zeugen nicht mehr aussagen können, nicht mehr aussagen wollen oder
einfach nicht mehr aufzutreiben sind». Die Staatsanwaltschaft geht
aber davon aus, dass weiter ein dringender Tatverdacht besteht.
Die Verteidigung kündigte derweil ein Statement für den nächsten
Prozesstag in der kommenden Woche an. Vielleicht wird sich die
75-Jährige dann auch selbst äußern.
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