Mehr psychisch Kranke - Ochsenzoll wieder auf dem Weg zur Großklinik Von Bernhard Sprengel, dpa
Vor bald 50 Jahren gerieten psychiatrische Großkliniken wie in
Hamburg-Ochsenzoll in die Kritik. Die Patienten sollten ambulant und
wohnortnah versorgt werden. Heute wächst die Zahl der Betten wieder
stark - vor allem für Kranke, die nicht freiwillig kommen.
Hamburg (dpa/lno) - 130 Jahre nach ihrer Gründung stellt die starke
Zunahme psychiatrischer Erkrankungen die Hamburger Asklepios-Klinik
Nord/Ochsenzoll vor große Herausforderungen. Seit Mitte der 1970er
Jahre hatten sich Therapeuten und Sozialarbeiter für den Abbau der
Großkliniken in Deutschland eingesetzt. Chronisch kranke Patienten
sollten nicht mehr in der Klinik, sondern in ihrem Stadtteil oder zu
Hause leben, erklärt der Ärztliche Direktor der Klinik, Prof.
Claas-Hinrich Lammers (61). Seit Mitte der 90er Jahre gab Ochsenzoll
einen Großteil seines Geländes im Hamburger Norden zum Wohnungsbau
ab. «Jetzt schlägt das Pendel wieder zurück», sagt Lammers. «Unse
r
Nachteil Größe wird zum Vorteil.»
Ochsenzoll wurde 1893 als «Landwirtschaftliche Kolonie für
Geisteskranke» auf 130 Hektar Waldgebiet gegründet. Die Patienten
lebten in Pavillons, wo sie bis zu 20 Jahre ihres Lebens verbrachten.
1914 hatte die «Irrenanstalt Langenhorn» gut 1800 Betten. Heute
verfügt die Klinik über rund 1000 Behandlungsplätze für stationär
e
Patienten. Sie bleiben im Schnitt 20 Tage. Zu Ochsenzoll gehören auch
ein Standort in Wandsbek mit 100 Betten sowie acht Tageskliniken,
verteilt über die ganze Stadt. Dennoch ist der Bedarf größer als das
Angebot. Vor allem die Nachfrage in der Ambulanz auf dem
Klinikgelände habe «bombastisch» zugenommen, sagt Lammers. Das
Krankenhaus stößt an seine Grenzen. Für den Aufbau einer Kinder- und
Jugendpsychiatrie ist auf dem Gelände kein Platz.
Besonders groß ist die Not in der forensischen Abteilung, also in dem
geschlossenen Bereich zur Unterbringung psychisch kranker Straftäter.
«Die Zahl der Forensik-Betten hat überall in Deutschland zugenommen,
wirklich dramatisch», sagt der Klinikdirektor. Nach Angaben der
Sozialbehörde hat sich die Zahl der psychisch kranken Straftäter im
Hamburger Maßregelvollzug in den vergangenen 20 Jahren verdreifacht.
2002 gab es 116 Insassen, Anfang dieses Jahres 350. Die Klinik in
Ochsenzoll verfügt über 325 Plätze. In diesem Jahr sollen 40
hinzukommen, im nächsten Jahr 10.
Wegen der Überbelegung nehme die Klinik keine Patienten mehr auf, die
auf richterliche Anordnung nur vorläufig untergebracht werden sollen,
sagt Lammers. Verurteilte Patienten müssen dagegen aufgenommen
werden. Sie kommen in eine gefängnisartige Station, umgeben von einer
hohen Mauer mit Stacheldraht. Für eine Kunstausstellung zum Jubiläum
hat die Klinik einen Eingang in der Mauer geöffnet. In dem für
Besucherinnen und Besucher zugänglichen Bereich befindet sich ein
Café, das mit einem idyllischen Außenbereich überrascht. «Wir sind
ein Krankenhaus», betont eine Therapeutin mit Blick auf die
freundliche Gestaltung des Gartenlokals.
Weit über 90 Prozent der Patienten kommen nach Angaben von Lammers
freiwillig nach Ochsenzoll. In der Bevölkerung sei der Ort aber noch
mit Ängsten verbunden. «Unsere Vorstellung von Psychiatrie ist
geprägt von Filmen», sagt Lammers. Dort seien die Einrichtungen
negative Orte mit alten Gemäuern, Stahltüren, Zwangstherapien und
Elektroschockbehandlungen. Letztere seien allerdings zu Unrecht in
Verruf geraten. Die heute als Elektrokonvulsionstherapie
(EKT/Elektroheilkrampfbehandlung) bezeichnete Behandlung sei eine
sehr gute Therapie, wenn auch aufwendig und teuer. «Dennoch machen
wir das, und zwar weil es für bestimmte Patienten mit schweren
psychischen Erkrankungen eine extrem wirksame und zum Teil wirklich
lebensrettende Methode ist», sagt der Klinikdirektor. Er spricht von
einer Renaissance der in den 1930er Jahren entwickelten Therapie.
Patienten werden nur noch freiwillig und unter Narkose mit
Elektroimpulsen behandelt. Eine Behandlung auf richterliche Anordnung
ist seit zwei Jahren nicht mehr möglich. Junge Medizinstudenten
bezeichneten die Methode oft als brutal, berichtet Lammers. Er
antworte darauf mit einem Vergleich zur Chirurgie: «Einen Bauch
aufzuschneiden, ist auch nicht gerade hübsch. Aber man macht es, weil
man sagt, das ist der einzige Weg, diesen Menschen zu helfen.»
Bei der Elektrokonvulsionstherapie wird das Gehirn für wenige
Sekunden mit sehr kurzen elektrischen Impulsen über die Kopfhaut
stimuliert. Dadurch werde ein Teil der Nervenzellen zu einer
Aktivität im gleichen Takt angeregt, erklärt die Deutsche
Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie,
Psychosomatik und Nervenheilkunde. Wirksam sei nicht der elektrische
Strom, sondern die vorübergehende koordinierte Aktivität der
Nervenzellen. Bei wiederholter Anwendung würden hirneigene
Heilungsprozesse angestoßen. «Vornehmlich Patienten mit depressiven
und psychotischen Beschwerden sprechen gut auf die Therapie an»,
heißt es in einem Ratgeber für Patienten und Angehörige.
Die Klinik in Ochsenzoll will Ängste in der Bevölkerung abbauen und
hat darum Anwohner und Interessierte in diesem Jahr zu mehreren
Veranstaltungen eingeladen. Lammers glaubt, dass durch solche und
ähnliche Bemühungen schon viel erreicht worden ist: «Die Akzeptanz
für psychisch Kranke ist extrem gestiegen, gleichwohl ist noch Luft
nach oben.»
Offen geht Ochsenzoll auch mit seiner dunklen Geschichte um. Vor dem
Haupteingang zum Verwaltungsgebäude erinnern Tafeln an das Schicksal
von über 3600 Patienten mit Behinderungen, die in der NS-Zeit ab 1940
in Tötungs- und Verwahranstalten gebracht wurden. Mehr als 2400 von
ihnen fanden dabei den Tod.
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