Sterbehilfe in Deutschland weiter ungeregelt - Wie agieren Nachbarn? Von Annett Stein, dpa

In Deutschland lassen gesetzliche Regelungen zur Sterbehilfe weiter
auf sich warten. Was zeigt die Erfahrung anderer Länder?

Berlin (dpa) - Seit Jahren wird in Deutschland um Regelungen zur
Sterbehilfe gerungen. Am Donnerstag verfehlten zwei dafür vorgelegte
Gesetzentwürfe im Bundestag eine Mehrheit. In nächster Zeit könnten
neue Vorschläge ausgearbeitet werden - auch ohne gesetzlichen Rahmen
sind Sterbehilfe-Angebote aber weiterhin rechtlich möglich. Die
Grünen-Abgeordnete Renate Künast machte deutlich, dass sie nicht mit
einem nächsten Versuch noch in dieser Wahlperiode rechnet. Ihr
FDP-Kollege Benjamin Strasser meinte, man werde mit etwas Abstand
über ein Ob und Wie für einen neuen Anlauf beraten.

Derzeit ist aktive Sterbehilfe hierzulande strafbar. Erlaubt ist aber
der Abbruch lebenserhaltender Maßnahmen, wenn das dem Willen des
Patienten entspricht, ebenso wie indirekte Sterbehilfe. Von dieser
wird gesprochen, wenn es um die Schmerzlinderung eines Patienten geht
und die entsprechenden Medikamente zur Folge haben, dass er früher
verstirbt. Auch die Beihilfe zur Selbsttötung ist straffrei - sie
kann in der Beschaffung oder Bereitstellung eines tödlichen Mittels
bestehen, das der Patient allerdings selbst einnimmt.

Allein im Jahr 2021 hatten in Deutschland tätige
Sterbehilfe-Organisationen bei fast 350 Suiziden geholfen, wie es in
einem Anfang 2022 vorgestellten Bericht unter anderem der Deutsche
Gesellschaft für Humanes Sterben (DGHS) hieß.

Wie sind die Erfahrungen in anderen Ländern wie der Schweiz und den
Niederlanden, wo aktive Sterbehilfe schon länger erlaubt ist?

In der Schweiz nehme die Zahl der Suizidhilfefälle seit einigen
Jahren stark zu, sagt Markus Zimmermann von der Universität Freiburg
(Schweiz). In Belgien und den Niederlanden sei die Entwicklung
vergleichbar. Gegenwärtig gebe es in der Schweiz etwa 1300 Fälle
jährlich, die Sterbefälle aus dem Ausland anreisender Sterbewilliger
nicht mitgerechnet.

«Meines Erachtens wird in der Diskussion in Deutschland viel zu wenig
- nämlich überhaupt nicht - über die helfende Person und ihre Motive

gesprochen», erklärt Ethik-Professor Zimmermann. Ethisch gesehen sei
das aber der entscheidende Punkt, wenn man Suizidhilfe grundsätzlich
akzeptiere. «Handelt die Person aus Mitleid, Fürsorge, um Geld zu
verdienen, aus anderen Gründen?» Suizidhilfe könne nicht wie am
Fließband nach einer Stunde Gespräch geleistet werden. Werde
Sterbehilfe wie in den Niederlanden zu einer ärztlichen
Dienstleistung, sei das prekär für den Arztberuf.

Die Niederlande hatten vor gut 20 Jahren als erstes Land der Welt die
Tötung auf Verlangen erlaubt. Ärzte können dort unter bestimmten
Umständen das Leben auf Wunsch beenden oder Beihilfe zum Suizid
leisten. Wurden 2003 laut sogenanntem RTE-Report noch 1885 Fälle
gezählt, waren es 2013 schon 4829. Für 2021 wurden 7666
Sterbehilfefälle erfasst - was den Angaben zufolge 4,5 Prozent aller
Todesfälle in den Niederlanden in dem Jahr entsprach. Möglich ist
Sterbehilfe dort schon für Kinder ab zwölf Jahren.

Noch liberaler ist das Sterbehilfegesetz in Belgien: 2014 wurde hier
die Altersbeschränkung komplett aufgehoben. Einer Studie aus dem Land
von 2015 zufolge stieg nicht nur die Zahl der Sterbehilfe-Wünsche von
2007 auf 2013 deutlich, sondern auch die Quote der Genehmigungen -
ein Befund, der von Kritikern als Beleg dafür gesehen wird, dass das
Angebot die Nachfrage schafft.

Zudem stieg der Anteil älterer Menschen generell und solcher, die in
Altenheimen lebten. Bestrebungen, Sterbehilfe verstärkt auch älteren
Menschen zu ermöglichen, die nicht todkrank sind, aber keinen
Lebenswillen mehr haben, gibt es zum Beispiel in den Niederlanden
bereits. Zum großen Teil sind Menschen mit solchem Wunsch einer
Studie des dortigen Gesundheitsministeriums zufolge Frauen, viele
sind niedrig gebildet. Genannte Faktoren waren unter anderem das
Gefühl, anderen zur Last zu fallen, Einsamkeit und Geldsorgen. Bei
der Hälfte der Befragten schwankte der Todeswunsch, teils abhängig
von der Jahreszeit.

Was bei Sterbehilfe-Regelungen vermieden werden müsse, allerdings
durch kein Gesetz der Welt verhindert werden könne, sei eine
«politisch aufgegleiste, schleichend einsetzende, systematische,
gewerbsmäßige Sterbehilfe, die trotz juristischer Einschränkungen
allein durch das werbende Angebot ausgelöst werden und in einen
Automatismus abgleiten kann», sagt Christine Bartsch von der
Hochschule für Wirtschaft und Recht in Berlin. Es dürfe nicht so
kommen, dass Menschen sich unter Druck fühlten, Sterbehilfe zu
nutzen, um niemandem zur Last zu fallen oder unnötige Kosten zu
verursachen.

In der Schweiz sei die Lobby der Suizidbeihilfevereine bereits
riesengroß, erklärt Bartsch, die eine Professur für Rechtsmedizin
innehat. Die Vereine brächten dort eine Gesetzesinitiative nach der
anderen ein, um ihr Geschäft möglichst in sämtliche Institutionen wie

Alten- und Pflegeheime, Krankenhäuser und Hospize ausweiten zu
können. «Wenn diesen Vereinen erstmal Tür und Tor geöffnet wurden,

gibt es aus unserer Forschungsperspektive tatsächlich kein Halten und
vor allem keine Kontrolle mehr.»

In Deutschland sei wichtig, festzulegen, wer die Hilfe beim Sterben
geben darf, wie diese konkret aussehen soll, was sie kosten darf und
wer für diese Kosten aufkommt. Gehe es um medizinische Berufsgruppen
oder unbekannte Vereinsakteure mit geschäftsmäßiger Tätigkeit und
hoher Entlohnung pro Fall? Solle Suizidbeihilfe eine
Krankenkassenleistung werden oder Privatangelegenheit bleiben? «Das
sind ganz sicher die wichtigsten Fragen.»

Eine Neuregelung ist in Deutschland notwendig, weil das
Bundesverfassungsgericht 2020 ein seit 2015 bestehendes Verbot der
geschäftsmäßigen Sterbehilfe gekippt hatte. Es sah das Recht des
Einzelnen auf selbstbestimmtes Sterben verletzt. Dabei bezieht sich
«geschäftsmäßig» nicht auf einen finanziellen Aspekt, sondern
bedeutet «auf Wiederholung angelegt». Das Urteil stieß eine Tür f
ür
organisierte Angebote auf.

Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Georg Bätzing, hatte
im Vorfeld der Abstimmung am Donnerstag für eine Kultur der
Lebensbejahung und gegenseitigen Fürsorge geworben. «Wir müssen als
Gesellschaft darauf achten, dass keine Situation entsteht, in der ein
älterer oder kranker Mensch oder ein Mensch in einer existenziellen
Krise eher eine gute Infrastruktur der Suizidassistenz vorfindet als
ausreichende und angemessene Rahmenbedingungen, um sich
vertrauensvoll in Pflege zu begeben», sagte der Bischof.