Zeugnisvermerke bei Nichtbewertung von Leistung okay - aber für alle Von Marco Krefting, dpa

Benachteiligt ein Zeugnisvermerk zur Legasthenie und nicht benoteter
Rechtschreibung Betroffene? Ja, sagt das Bundesverfassungsgericht.
Grundsätzlich sei das gerechtfertigt, aber nicht in jedem Fall.

Karlsruhe (dpa) - «Auf die Bewertung von Rechtschreibung wurde
verzichtet.» Ein solcher Satz im Abiturzeugnis kann Schülerinnen und
Schüler mit Lese-Rechtschreib-Störung (Legasthenie) benachteiligen.
Er legt behinderungsbedingte Leistungsdefizite offen. Das
beeinträchtigt grundgesetzlich geschützte Persönlichkeitsrechte und
kann Erfolgschancen bei Bewerbungen verschlechtern.

All das sieht das Bundesverfassungsgericht so. Und doch urteilte es
am Mittwoch, Zeugnisvermerke dieser Art könnten verfassungskonform
und im Sinne einer Chancengleichheit sogar geboten sein.

Allerdings hielten die Karlsruher Richterinnen und Richter auch fest,
dass Zeugnisvermerke dann nicht nur auf Legasthenikerinnen und
Legastheniker begrenzt werden dürften. Im konkreten Fall dreier
ehemaliger Abiturienten aus Bayern war das jedoch so.

Daher gab das höchste deutsche Gericht ihnen Recht und hob
anderslautende Urteile des Bundesverwaltungsgerichts auf. Den Männern
seien Zeugnisse ohne Bemerkung auszustellen. (Az. 1 BvR 2577/15 u.a.)

Warum Fachleute das Urteil als Erfolg bewerten

Vertreter von Fachverbänden sehen in dem Urteil vor allem einen
Erfolg, weil es Legasthenie als Behinderung im Sinne des
Grundgesetzes anerkennt. Damit hätten betroffene Kinder dringenden
Schutzbedarf - auch in der Schule, sagte Gerd Schulte-Körne von der
Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie,
Psychosomatik und Psychotherapie. Die Kinder müssten Raum bekommen,
ihren Begabungen entsprechend die Schule zu besuchen und bewertet zu
werden. «Und da gibt es dringenden Handlungsbedarf.»

Tanja Scherle, Vorsitzende des Bundesverbands Legasthenie und
Dyskalkulie, sagte, Eltern und Betroffene trauten sich oft aus Angst
vor den Folgen nicht, eine Diagnose stellen zu lassen. Daher sei das
Urteil «ein ganz wichtiger Moment», da Betroffene damit Rechte für
Behinderte hätten. Die für die Schulpolitik verantwortlichen
Bundesländer müssten jetzt ihre jeweiligen Regelungen nachbessern.

Dem Bundesverband Legasthenie und Dyskalkulie zufolge sind etwa zwölf
Prozent der Bevölkerung in Deutschland von mindestens einer der
Beeinträchtigungen betroffen. Bei Dyskalkulie oder Rechenstörung sind
Rechenfertigkeiten beeinträchtigt, ohne dass das allein durch eine
Intelligenzminderung oder unangemessene Beschulung erklärbar wäre.

Wie das Verfassungsgericht argumentiert

Das Urteil könnte dazu führen, dass es mehr Zeugnisvermerke gibt.
Denn das Gericht machte deutlich, dass diese Transparenz herstellen.
Das gelte insbesondere mit Blick auf das Abitur als Nachweis der
allgemeinen Hochschulreife, sagte Präsident Stephan Harbarth.

Werden im Einzelfall nicht erbrachte Leistungen offengelegt, erhöht
das den Erklärungen zufolge die Aussagekraft und Vergleichbarkeit der
Zeugnisse - und daran bestehe ein öffentliches Interesse. Nur so
könnten zum Beispiel Arbeitgeber bei der Auswahl von Bewerbern deren
unterschiedliche Leistungsfähigkeit auch tatsächlich vergleichen. Das
stehe auch im Einklang mit der UN-Behindertenrechtskonvention.

Es gehe aber nicht, dass Schülerinnen und Schüler mit anderen
Behinderungen keine Zeugnisvermerke bekommen, obwohl einzelne
Teilleistungen nicht bewertet wurden. So wurde es im fraglichen
Zeitraum in Bayern gehandhabt. Gleiches gelte, wenn Lehrkräfte nach
eigenem Ermessen etwa in naturwissenschaftlichen Fächern keine
Rechtschreibleistungen bewerten, ohne dies im Zeugnis offenzulegen.

«Wir werden das Urteil selbstverständlich genau analysieren und
auswerten und Hinweise zur Weiterentwicklung aufgreifen», teilte die
bayerische Kultusministerin Anna Stolz (Freie Wähler) mit. Die
beanstandete Verwaltungspraxis werde im Freistaat seit 2016/17 nicht
mehr praktiziert, erläuterte ein Sprecher. Die Beeinträchtigung
selbst werde in keinem Fall offengelegt, sondern bloß die Tatsache,
dass (Teil-)Leistungen nicht erbracht oder bewertet wurden. Die
aktuelle Handhabe sieht das Ministerium daher im Grundsatz bestätigt.

Was die Hintergründe sind

Bei dem Thema geht es um den sogenannten Notenschutz, den viele
Bundesländer - darunter Bayern - ermöglichen. Dann lassen Lehrkräfte

auf Antrag die Rechtschreibung nicht in die Noten einfließen und
vermerken im Zeugnis, dass sie die Leistung anders bewertet haben.

Zudem bekommen Menschen mit Behinderung in Schulprüfungen einen
«Nachteilsausgleich». Das kann zum Beispiel bei Legasthenikerinnen
und Legasthenikern bedeuten, dass sie mehr Zeit zum Schreiben einer
Arbeit haben.

Die drei bayerischen Schüler haben 2010 Abitur gemacht. Sie sahen
sich durch die Zeugnisvermerke diskriminiert und hatten sich durch
die Instanzen geklagt. Das Bundesverwaltungsgericht erteilte ihnen
2015 eine Absage. Dagegen reichten sie Verfassungsbeschwerden ein.

Verfassungsrichter Josef Christ hielt bei der Urteilsverkündung fest,
dass sich die Aufgabe der schulischen Vermittlung von
Rechtschreibregeln und deren Bewertung durch die Entwicklung
selbstlernender Rechtschreibprogramme nicht überholt habe.
«Korrekturprogramme können Rechtschreibdefizite nicht vollständig
ausgleichen.» Es sei daher nicht nur vertretbar, sondern naheliegend,
die Rechtschreibkompetenz zum Bestandteil der durch das Abitur
vermittelten allgemeinen Hochschulreife zu machen.

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