Verbreitet und oft unerkannt: Lipödem verursacht schweres Leid Von Yuriko Wahl-Immel, dpa
Die chronische Fettverteilungsstörung führt zu oft massiver
Volumenzunahme vor allem an Armen und Beinen, meist geht sie einher
mit großen Schmerzen. Die Versorgung betroffener Frauen gilt als
unzureichend.
Münster/Osnabrück (dpa) - Es ist eine schwere, unheilbare Erkrankung,
die nahezu ausschließlich Frauen trifft und oft eine massive
Volumenzunahme vor allem an Beinen und Armen sowie Dauerschmerzen
bedeutet. Das Lipödem ist weitverbreitet, bleibt aber häufig
unerkannt oder wird mit Adipositas verwechselt. Die Ursachen der
chronischen Krankheit, bei der es zu einer drastischen Vermehrung und
Vergrößerung von Fettzellen kommt, sind noch immer weitgehend
unklar.
Für Tanja Degner begann es im Jahr 2000, nach der Geburt ihres
Sohnes. «Ich hatte geschwollene Fußknöchel, schwere, schmerzende
Beinen, habe stark zugenommen», erzählt die 52-Jährige. «Meine
Hausärztin sagte, ich solle weniger essen.» Sie habe es mit einer
Diät von täglich unter 1000 Kilokalorien versucht - und doch wuchsen
der Umfang der Beine und Arme und ihr Gewicht erheblich. «Die
Schmerzen haben zugenommen, ich hatte Hämatome, konnte keine
Berührung aushalten.» Ein TV-Beitrag bringt sie auf die Spur, sie
sucht den erwähnten Mediziner auf. «Nach einem wahren Ärzte-Marathon
und 14 Jahren mit extremer Gewichtszunahme und starken Beschwerden
habe ich dann endlich die richtige Diagnose bekommen», schildert
Tanja Degner, die im Landkreis Osnabrück nahe an der NRW-Grenze lebt.
«Der Weg bis zur Diagnose ist für viele Frauen voller Stolpersteine.»
Der Direktor der Klinik für Plastische Chirurgie am Uniklinikum
Münster, Tobias Hirsch, spricht von einem «Diagnose-Gap» von oft rund
20 Jahren, bis das Lipödem richtig erkannt werde. «Wir wissen zu
wenig über diese Krankheit und was genau im Körper passiert.» Klare
Zahlen zu Betroffenen gebe es nicht, die Dunkelziffer sei hoch.
Unstrittig: «Ein relevanter Teil der weiblichen Bevölkerung ist
betroffen.» Es gebe wenig spezialisierte Ärzte, bei denen es zu
extremen Wartezeiten komme. «Wir gehen von einer genetischen
Veranlagung und hormonellen Triggern aus, und dass das Lipödem in
hohem Maße Diät-resistent ist.» Trotzdem spiele Ernährung eine Roll
e.
Manchmal komme Adipositas noch obendrauf.
Eine fortschreitende Erkrankung in drei Stadien
Das Lipödem wird je nach Fettgewebemenge in die Stufen I bis III
unterteilt. Im dritten Stadium kann der Umfang so enorm sein, dass
das Gewebe über die typischerweise schmal bleibenden Knie-, Hand- und
Fußgelenke hinüberhängt. Bei manchen verharre das Lipödem aber auch
in Stadium I oder II, erläutert Hirsch, der im Gesundheitsausschuss
des Bundestags als Sachverständiger eine bessere Versorgung angemahnt
hatte. Die Stufen-Einteilung nach Fettmasse hält er für sehr
problematisch, denn der Schmerz sei das zentrale Symptom. «Es kann
sein, dass eine Patientin mit noch schlanken Beinen im Stadion I sehr
viel stärkere Schmerzen hat als eine Frau im Stadion III mit massiver
Volumenzunahme.»
Claudia Effertz von der Lipödem-Gesellschaft (LipöG) schätzt, dass
bundesweit bis zu vier Millionen Frauen vom Lipödem betroffen sind,
sehr viele das aber nicht wissen. Es brauche eine breite
Informationskampagne. Meistens trete das Lipödem in Pubertät,
Schwangerschaft oder Menopause auf. Es könne zu orthopädischen
Begleiterkrankungen wie einer Fehlstellung der Beinachsen oder
Gelenkverschleiß kommen. Auch die seelischen Belastungen seien
schwer. Verlauf, Ausmaß und Dynamik variierten.
Kompressionswäsche und Lymphdrainage helfen, die Beschwerden zu
lindern. Auch Tanja Degners Tag beginnt damit, sich in medizinische
Kompressionsstrümpfe zu zwängen. «Ich habe 24 Stunden am Tag
Schmerzen in den Armen und den Beinen und bin von einem sekundären
Lymphödem betroffen», schildert sie - es droht ihr also auch eine
Degeneration der Lymphgefäße. Das Gewicht belastet Wirbelsäule und
Gelenke, zwei Knie-Operationen waren erforderlich. In ihrer
schlimmsten Zeit war sie bei 1,67 Meter Größe fast 180 Kilogramm
schwer. «Ich war kurz davor, in den Rollstuhl zu kommen.» Nach ihrer
Diagnose hat sie mithilfe einer Ernährungsberaterin und
Bewegungstherapie inzwischen 45 Kilo verloren. Für eine Liposuktion -
operatives Fettabsaugen - lehnte ihre Krankenkasse die
Kostenübernahme ab. Nach der Absage sei sie psychisch
zusammengebrochen, sagt die 52-Jährige.
Betroffene bei Kosten nicht allein lassen
Kassen sollten mehr Kosten übernehmen, fordern viele Experten. Das
gelte vor allem für Liposuktionen. Die neusten Lipödem-Leitlinien vom
Januar 2024 - verfasst von mehreren medizinischen Fachgesellschaften,
vor allem Venenfachärzten - empfehlen in schweren Fällen, das
krankhaft massiv vermehrte Fettgewebe unter der Haut an Armen und
Beinen operativ zu entfernen. Betont wird dabei auch: Die Ergebnisse
der Liposuktion seien in frühen Stadien besser.
Claudia Effertz, die erst nach 15 Jahren die korrekte Diagnose
erhalten und bis dahin 70 Kilo zugenommen hatte, kämpfte vier Jahre
lang mit Kompressionsbekleidung, Lymphdrainage und viel Bewegung
erfolglos gegen das Lipödem. «Ich musste an Gehstöcken laufen, war
nur noch zu 40 Prozent arbeitsfähig», erzählt Effertz. Nach zunächs
t
mehreren Absagen der Krankenkasse wurden die Kosten für OPs an Beinen
und Armen übernommen. Es erfolgten sechs Eingriffe, 55 Liter Fett
wurden abgesaugt. «Die OPs waren sehr belastend, aber die enorme
Erleichterung überwiegt. Dass diese Eingriffe mit einer
Schönheitsoperation verglichen werden, ist falsch und makaber.» Sie
ist beruflich wieder voll einsatzfähig. «Generell die Frauen
hängenzulassen, ist schlimm - mit Blick auf den Personalmangel und
die oft sehr gute Qualifikation ist es untragbar.»
Eine Liposuktion gehe mit recht wenigen Risiken und Komplikationen
einher, sagt Mediziner Hirsch. «Wir haben bislang keine Alternative
bei schweren Fällen. Die Frauen profitieren erheblich. Die Operation
macht nicht gesund, aber sie hat sehr viele Vorteile.» Schmerzen und
Körperumfang würden deutlich reduziert, ebenso orthopädische
Schädigungen oder auch psychische Belastungen. «Je früher operiert
wird, desto besser.» Hirsch kritisiert: «Aktuell ist es ein
Riesenproblem mit der Kassenerstattung - ein Kampf für Patientinnen,
Ärzte und Krankenhäuser.» Er hofft, dass eine noch laufende, breit
angelegte Studie den hohen Nutzen der OP in schweren Fällen belegt
und die Eingriffe dann bald stadienunabhängig pauschale
Kassenleistung werden.
Was übernehmen die Kassen?
Eine Liposuktion wird derzeit in der Regel nur bei Stadium 3 bezahlt,
nach Einzelfallprüfung und befristet noch bis Ende 2024. Beim
GKV-Spitzenverband heißt es, die Datenlage sei unklar, es seien
inzwischen möglicherweise rund 300 000 Betroffene in Behandlung. Von
2020 bis 2023 wurden demnach für insgesamt 14 180 stationäre oder
ambulante (hier nur bis Mitte 2023 gezählt) Eingriffe die Kosten
übernommen. Die Voraussetzungen für eine Erstattung lege eine
Qualitätssicherungs-Richtlinie fest. Laut LiPöG bezahlen drei Viertel
der Frauen ihre Eingriffe selbst, verschulden sich dafür oft. Der
Berufsverband der Frauenärzte unterstreicht, Fettabsaugung bei
Lipödem sei kein kosmetischer Eingriff, sondern medizinisch
notwendig.
Miriam aus dem Odenwald kämpfte lange um eine Liposuktion. Nach
Widerspruch und Einfordern einer persönlichen Begutachtung werden ihr
nun zwei Eingriffe bezahlt. Trotz Lipödem-Zunahme von 15 Kilo hat sie
noch fast Normalgewicht, aber seit Jahren Schmerzen. Mit
Fitnessstudio und Diäten sei der Fettgewebezuwachs nicht rückgängig
zu machen, berichtet die 37-Jährige. Für daheim hat sie einen
Lymphapparat, eine riesige Sitzhose mit einem Kompressor. «Gegen den
Schmerz.» Sie kann ihre kleine Tochter nicht mehr auf den Schoß
nehmen, muss oft alles absagen, hat ohne OP keine Aussicht auf
Besserung. «Diese Krankheit ist so zeitintensiv, belastend, der
Alltag so schwer zu meistern. Für mich geht es nicht um Optik, ich
hoffe auf ein schmerzfreies, normales Leben.»
Tanja Degner hat Humor und Hoffnung nicht verloren, geht es gemeinsam
mit einem Kreis von Betroffenen offensiv an: «Wir wollen klarstellen,
dass wir krank sind und eine Ent-Stigmatisierung erreichen. Wir
brauchen eine bedarfsgerechte Versorgung, mehr kompetente Ärzte, mehr
Verständnis. Die Krankheit ist blöd, aber sie darf nicht unser Leben
bestimmen.»
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