Zurück zum Ort der Qualen - Verschickungskinder besuchen Klinikruine Von Dorothea Hülsmeier, dpa

Die Kinder sollten von Tuberkulose geheilt werden und erlebten ein
Martyrium. Jahrzehnte später besuchen sie als Erwachsene die
Klinikruine Aprath. Die Kinderkur hat sie lebenslang gezeichnet.

Düsseldorf/Aprath (dpa) - Beatrix Hötger-Schiffers war gerade erst
ein Jahr alt, als sie an Tuberkulose erkrankte und im Jahr 1964 nach
Aprath kam. Ein Jahr verbrachte das Kleinkind in der Kinderheilstätte
für Tuberkulose nahe Wuppertal. Einmal im Monat durften die Eltern
sie besuchen. Als die kleine Beatrix mit knapp zwei Jahren nach Hause
entlassen wurde, konnte sie, so erzählten es ihre Eltern, nur zwei
Wörter sprechen: «so» und «bös'». Essen sammelte das Kind im Mu
nd und
schluckte es dann auf einmal hinunter. 

Was in Aprath mit ihr geschah, weiß die inzwischen 60 Jahre alte
Hötger-Schiffers nicht. Nur kurze Postkarten der Klinik an ihre
Eltern - «Der Dr. sagt, meine Gesundheit macht Fortschritte» - und
die Entlassungsankündigung für den 4. Juni 1965 («Um pünktliche
Abholung wird gebeten») sind ihr geblieben. Zu klein war sie für
konkrete Erinnerungen. Aber immer hatte sie später bei den jährlichen
Lungenuntersuchungen Angst vor weißen Ärztekitteln. Oft musste sie
sich als Kind übergeben, wurde dabei sogar ohnmächtig und war sich
sicher, sie müsse sterben. Wenn Besuch ging, war sie todtraurig. 

Zurück an den Ort des Leids

Jahrzehnte später besucht Hötger-Schiffers zusammen mit weiteren
Betroffenen die Ruine der Klinik Aprath. Die einstigen Kurkinder
wollen auf eine Spurensuche an einen Ort zurück, der sie für ihr
ganzes Leben gezeichnet hat. Im strömenden Regen wandern sie um die
trostlose mehrstöckige Ruine auf einer Anhöhe im Wald, blicken auf
Fensterhöhlen, verrammelten Türen und von Grün überwucherten Balkon
e.
Seit Jahren steht die Klinik leer. 

Organisiert hat die Begehung der Verein Verschickungskinder, der das
Schicksal von Millionen Kurkindern seit einigen Jahren aufarbeitet.
In der Bundesrepublik wurden vor allem von den 1950er bis in die
1980er Jahre und darüber hinaus Klein- und Schulkinder sowie
Jugendliche in Kindererholungsheime und Heilstätten «verschickt». F
ür
die gesamte damalige Bundesrepublik wird die Zahl der in Kuren
verschickten Kinder auf mindestens sechs bis acht Millionen
geschätzt. 

Gefürchtete «Tanten»

Auch die Aufenthalte von kranken Kindern in Spezialkliniken wie
Aprath arbeitet der Verein Verschickungskinder auf. Bis in die 1990er
Jahre wurden dort Kinder mit Lungenerkrankungen behandelt. André
Theuerzeit gehörte wohl zu den letzten kleinen Patienten in Aprath
und musste noch 1984 mit acht Jahren drei Monate in die Klinik. «Das
Gebäude und der Geist, der dort herrschte - ich wollte einfach nur
weg», sagt der 48 Jahre alte Theuerzeit, der in Berlin wohnt. 

Die Kinder seien gezwungen worden, aufzuessen. Als er bockig war,
erlöste ihn Stunden später eine Reinigungskraft im Speiseraum und
räumte das Tablett einfach weg. «Es herrschte dort eine sehr
repressive und autoritäre Atmosphäre vor allem seitens der Tanten und
der Schwestern», erinnert sich Theuerzeit. «Tanten», das waren die
Betreuerinnen, und sie waren gefürchtet. Nun blickt er mit einem
mulmigen Gefühl auf die furchteinflößende Ruine im Regen. «Es steck
t
so tief. Die drei Monate sind in meiner Kinderbiografie düster
zurückgeblieben.»

Berüchtigt waren die sogenannten Liegekuren. Täglich mussten die
Kinder draußen stundenlang mit festgebundenen Schlafsäcken auf
Pritschen liegen und durften keinen Mucks von sich geben. Haare
wurden ihnen abgeschnitten, Pakete von Zuhause wurden verteilt. Das
Heimregime war einschüchternd, die Betroffenen berichten von Schlägen
und davon, wie sie Erbrochenes aufwischen oder sogar aufessen
mussten. Verunsicherung und Angst bestimmten den Alltag der Kinder:
«Wenn du nicht artig bist, kommst du nie wieder nach Hause», zitieren
mehrere Betroffene den Satz der «Tanten».

Und es kam auch zu sexualisierter Gewalt. Mehr als einmal hätten die
«Tanten» mit den Kindern zwischen vier und 13 Jahren «Strip-Poker»

gespielt, berichtet Theuerzeit.  

Im System von Vernachlässigung und Gewalt hätten Schwestern und
Betreuerinnen «eine zentrale Rolle» gespielt, schreibt die
Historikerin Carmen Behrendt, die die Geschichte der 1910 gegründeten
Heilstätte Aprath aufgearbeitet hat.

Die Klinik war auf ärztlichem Chefposten über die Jahrzehnte
«familiengeführt». Erster ärztlicher Leiter wurde Georg Simon, 1953

übertrug er den Posten seinem Sohn Kurt Simon, der bis 1988 Chef der
Heilstätte blieb. Mit dem Rückgang der Tuberkulose wurde Aprath
zunächst in eine Lungenfachklinik und Anfang der 1980er Jahre
schrittweise in eine Altenpflegeeinrichtung umgewandelt. In den
2000er Jahren wurde das Insolvenzverfahren eröffnet. 

Medikamententests an Kindern

Durch Aprath wird auch ein Schlaglicht auf die Rolle von Kurkindern
für die Tuberkuloseforschung und Medikamententests geworfen. Die
Medizinhistorikerin Sylvia Wagner und ihr Fachkollege Burkhard Wiebel
recherchierten zum Einsatz sedierender Medikamente und zu
Arzneimittelprüfungen in Kindererholungsheimen und -heilstätten. Ihr
Ergebnis: In Aprath sei 1956 - ein Jahr vor Markteinführung - das
Schlafmittel Contergan beziehungsweise dessen Wirkstoff Thalidomid an
Kindern mit Keuchhusten getestet worden. Auch in einer
Kinderheilstätte in Wittlich in der Eifel wurde den Kindern demnach
Contergan in großen Mengen verabreicht. 

In den 50er und 60er Jahren seien in Aprath zudem «umfangreich
Medikamente an tuberkulosekranken Kindern getestet» worden, sagt
Wagner. Es seien Testreihen mit unterschiedlichen Substanzen sowie
auch Mitteln gegen Wurmbefall an Hunderten Kindern vorgenommen
worden. In keinem Fall sei die Frage der Einwilligung durch die
Eltern thematisiert worden, sagte Wagner. 

Arzneimitteltests an Kindern mit Tuberkulose gab es auch in anderen
Kliniken, etwa in der berüchtigten hessischen Heilstätte Mammolshöhe

durch den Chefarzt Werner Catel. Er war einer der Haupttäter der
NS-«Kinder-Euthanasie» und erprobte 1947 in Mammolshöhe nicht
zugelassene Medikamente, bei denen mindestens vier Kinder starben.
Die Historiker listen Arzneimittelversuche auch in Kliniken in
Hildesheim und Garmisch-Partenkirchen auf. 

Betroffene wollen Antworten

«Ich möchte Fragen stellen und Antworten bekommen», sagt Theuerzeit.

«Wie konnte es sein, dass in den 80er Jahren noch dieser Geist der
schwarzen Pädagogik und Repressionen herrschte? Wie kann es sein,
dass es in einem Krankenhaus sexualisierte Gewalt gab?» 

Sigrid Röder (63) war 1971 im Alter von elf Jahren in Aprath. Sie
berichtet von einem «Regime der Willkür». Warum sie nach 52 Jahren
zum ersten Mal an den Ort ihrer Qualen zurückkommt? «Es ist mir
wahnsinnig wichtig zu sehen, dass es kaputt ist. Es ist eine Ruine.
Aber ich wünsche, dass jemand Verantwortung übernimmt dafür, dass man

weggeschaut hat.»

 

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