«Manchmal haut mich schon das Zähneputzen aus den Latschen» Von Bernadette Winter, dpa

Jung, leistungsbereit und erschöpft: Zahlreiche Kinder und
Jugendliche leiden unter den Spätfolgen von Corona. Besonders scheint
es junge Frauen zu treffen. Antonia ist eine von ihnen.

 

Bruchweiler (dpa) - Antonias Stimme ist leise, aber entschlossen. Mit
einem dicken Aktenordner auf dem Schoß berichtet die 17-Jährige in
einem Zimmer der Edelsteinklinik in Bruchweiler bei Idar-Oberstein
von ihrer Leidensgeschichte. Das Mädchen aus dem Landkreis Greiz in
Thüringen hat sie aufgeschrieben - um sich an alles zu erinnern.

Nach ihrer Impfung gegen das Coronavirus im Dezember 2021 beginnen im
Januar 2022 Antonias Magen-Darm-Probleme. Im Januar 2023 erkrankt sie
an Covid-19. Die Hausärztin schiebt ihre Beschwerden auf die Psyche.
Antonia entwickelt diverse Allergien und
Nahrungsmittelunverträglichkeiten, die sie zuvor nie hatte. Ihr ist
übel, sie muss sich häufig übergeben. Insgesamt verliert das junge
Mädchen zwölf Kilo Gewicht. 

«Die Hausärztin hat mir nicht geglaubt, da ich ein sehr
leistungsorientierter Mensch bin und in der Schule sehr engagiert
war», erzählt das Mädchen mit einem fast schon entschuldigenden
Lächeln. Die Psychologen, die Antonia besucht, bestätigen ihr, dass
ihre Psyche zwar leide, allerdings unter der aktuellen Situation. Sie
sehen die Psyche nicht als Ursache für Antonias Zustand. 

Irgendwann kommt einer der Behandelnden auf die Idee, einen Steh-Test
zu machen. Dabei muss man sich abwechselnd fünf beziehungsweise zehn
Minuten hinlegen und wieder aufstehen, der Puls wird kontrolliert.
Der Test fällt negativ aus. Und nicht nur das. Antonia erlebt ihren
ersten «Crash», eine Art Zusammenbruch, nach dem sie sich unfähig
fühlt, sich auch nur aus dem Bett zu erheben. «Seither ist es
manchmal schon das Zähneputzen, was mich aus den Latschen haut», sagt
Antonia.

Damit hatte «das Gespenst» jedoch «einen Namen», wie Antonia sagt:

Post Covid beziehungsweise Post-Vac, eine durch die Impfung
hervorgerufene Reaktion des Immunsystems. Ihre Hoffnung: eine Reha in
der Edelsteinklinik in Bruchweiler im Landkreis Birkenfeld. Eine
Einrichtung der Deutschen Rentenversicherung (DRV) Rheinland-Pfalz,
die sich auf Kinder und Jugendliche spezialisiert hat. Neben Antonia
sind im Juni sieben Patienten und Patientinnen mit Post Covid hier
untergebracht. 120 Kinder und Jugendliche behandelte die Klinik im
vergangenen Jahr wegen Corona-Spätfolgen.

«Nach der Impfung ist die Immunologie etwa die gleiche wie nach einer
Infektion», erklärt der Kinderneurologe Dr. Wolfgang Broxtermann, der
Antonia betreut. Deutschlandweit hätten viele Patienten und
Patientinnen so wie Antonia nach der Impfung, aber auch nach einer
Corona-Erkrankung ein chronisches Fatigue-Syndrom (ME/CFS)
entwickelt.

Die schwere neuroimmunologische Erkrankung geht in der Regel mit
Kopf-, Hals-, Muskelschmerzen, geschwollenen Lymphknoten sowie
Gedächtnis- und Konzentrationsproblemen einher. Typisch ist hier den
Experten zufolge außerdem eine Verschlechterung der Symptome nach
einer Belastung. Manchmal kommt nach Stunden, manchmal am
darauffolgenden Tag der sogenannte Crash, so wie bei Antonia.

Wie häufig Kinder und Jugendliche von Post Covid und von Impfschäden
betroffen sind, lässt sich nur schätzen. «Es gibt keine gesicherten
Zahlen, nur Hochrechnungen», erklärt Broxtermann. Er geht von etwa 80
000 jugendlichen Patienten mit ME/CFS in Deutschland aus. Sowohl die
Zahl der Betroffenen als auch die Versorgungssituation von Kindern in
Rheinland-Pfalz sei wenig transparent, sagt Prof. Dr. Stephan
Gehring, Sektionsleiter der Pädiatrischen Intensivmedizin,
Infektiologie und Gastroenterologie am Zentrum für Kinder- und
Jugendmedizin der Universitätsmedizin der Johannes
Gutenberg-Universität Mainz. «Sicher werden einige Kinder in
Spezialambulanzen wie Neuropädiatrie oder Sozialpädiatrie versorgt,
aber dies folgt keinem festen Schema, es gibt keine eindeutig
zugeordnete Expertise oder personelle Ressourcen.» 

Ob Kinder und Jugendliche häufiger oder weniger häufig erkranken als
Erwachsene ist ebenfalls nicht sicher. Fest steht laut Broxtermann:
Frauen und Mädchen sind wegen ihres anderen Immunsystems häufiger
betroffen als Männer und Jungen. Und mit steigendem Lebensalter nimmt
die Zahl der Betroffenen etwas ab.

In Rheinland-Pfalz sind bislang 651 Anträge wegen möglicher
gesundheitlicher Schäden nach einer Corona-Impfung gestellt worden -
16 Fälle wurden positiv entschieden. Das teilt das Landesamt für
Soziales, Jugend und Versorgung der Deutschen Presse-Agentur mit.
Daten zu Kindern und Jugendlichen, die einen Antrag auf Anerkennung
eines Impfschadens gestellt haben, werden allerdings nicht erhoben. 

Die DRV Rheinland-Pfalz hat im Jahr 2022 836 Reha-Maßnahmen wegen
Post-Covid bei Kindern und Jugendlichen genehmigt, 2023 lag die Zahl
bei 325. Die DRV engagiere sich in diesem Bereich, weil chronische
Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter die schulischen Leistungen
und den Einstieg in den Beruf belasteten - mit negativen Folgen für
das gesamte Berufsleben, sagt Hans-Georg Arnold, Sprecher der
Deutschen Rentenversicherung Rheinland-Pfalz. In der Reha lernen
Kinder- und Jugendliche, mit chronischen Erkrankungen besser
umzugehen. «Das hilft ihnen auch in der Schule und gibt ihnen bessere
Startchancen im Beruf. Denn eine gute Ausbildung ist der Grundstein
für eine gute Absicherung später im Alter.»

Antonia war seit Februar 2023 nicht mehr in der Schule, hat aber die
10. Klasse trotzdem mit sehr gutem Ergebnis abgeschlossen. Als sie
voll motiviert in die 11. Klasse einsteigen will, ist sie schon am
Mittwoch der ersten Woche «breit», wie sie es nennt. Jetzt nimmt sie
in der Klinik am Unterricht teil und will den Stoff der 11. Klasse
vorarbeiten, um ab Sommer so gut es geht den Schulalltag zu meistern.

«Ich fühle mich nach jedem Tag, als wäre ich einen Marathon gelaufen,

für den ich nie trainiert habe», beschreibt Antonia ihre aktuelle
Situation und vergleicht sich mit ihrer 65 Jahre alten Oma, die
leistungsfähiger ist als sie.

Immer wieder sonntags bekommt Antonia einen festen Therapieplan.
Darin: Ergotherapie, Krankengymnastik, Bewegungsbad, Haltungsturnen,
Entspannung, Konzentrationstraining, Ergometer-Training. «Sobald mir
was zu viel wird, darf ich das streichen», sagt sie. Ziel ist es,
ihre Belastbarkeit wiederherzustellen und mehr Bewegung ohne
Erschöpfung zuzulassen. Nach Angaben der Ärzte unterscheiden sich die
Therapiepläne von Post-Vac- und Post Covid-Patienten nicht.

«Aktuell geht es mir gut damit, aber das ist auch das Heimtückische»,

sagt Antonia. «Vielleicht übernehme ich mich gerade und bekomme in
zwei Wochen die Rechnung dafür.» Denn die «Crashs» kommen bei Anton
ia
zeitversetzt. «Die Vermeidung von Rückschlägen macht die Hälfte der

Therapie aus», erläutert Broxtermann. Die Überanforderung, das
ständige Triggern, müsse aufhören. «Wir haben hier manchmal große

Schwierigkeiten, die jungen Menschen aus dem Leistungsdenken
rauszubekommen und sie zu bremsen», sagt der Kinderneurologe. 95
Prozent der Kinder und Jugendlichen könnten ihr Leben nach der Reha
fortsetzen, allerdings dauere es fünf bis 15 Jahre, bis sie wieder
mitten im Leben stünden.

«Es hat eine Zeit lang gedauert, bis wir uns als Haus dem
Krankheitsbild genähert haben», sagt Martin Schebek, ärztlicher
Direktor der Edelsteinklinik Bruchweiler. «Auch ich gehörte lange
Zeit zu den Ärzten, die dachten, es sei hauptsächlich die Psyche
betroffen und man behandle im Grunde Depressionen.» Einem depressiven
Menschen versuche man eher einen Kick zu geben, ihn zu motivieren.
Menschen mit ME/CFS müssen nicht motiviert werden, sie wollen, können
aber nicht, weil die Kraft fehlt. «Was Antonia passiert ist, war
keine Bösartigkeit der Ärztinnen und Ärzte, sondern ein falsches
Krankheitsverständnis.»

Und Antonias größter Wunsch für die Zukunft? Sie möchte ihr Abitur

machen und Medizin studieren. Antonia sagt: «Ich habe so viele
schlechte Erfahrungen mit Ärztinnen und Ärzten gemacht, ich möchte es

besser machen.»

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