Weit weg und immer noch da - Horst Seehofer wird 75 Von Christoph Trost und Marco Hadem, dpa

Er war Bundesminister, CSU-Chef und bayerischer Ministerpräsident. Er
war geachtet - und umstritten. Nun wird Horst Seehofer, einer der
vielleicht letzten großen politischen Haudegen der Republik, 75.

München (dpa) - Horst Seehofer ist weg, ganz weit weg. Für jemanden,
der mehr als vier Jahrzehnte lang Politik an vorderster Front gemacht
hat, immer im Feuer, immer im Rampenlicht, hat er den Ausstieg in
erstaunlicher Weise geschafft. Kaum hatte er sein letztes Spitzenamt
als Bundesinnenminister Ende 2021 abgegeben, war er auch schon von
der Bildfläche verschwunden. Ein, zwei etwas größere Auftritte
absolvierte er seither, zuletzt im Europawahlkampf für den
CSU-Spitzenkandidaten Manfred Weber, mehr nicht. Im Gespräch heute
gewinnt man den Eindruck: Der ehemalige Spitzenpolitiker Seehofer ist
heute ein äußerst zufriedener Polit-Rentner. Alte Weggefährten
bestätigen dies.

Phantomschmerzen, wie manche andere vor ihm? Fehlanzeige. «Das war
mein Vorsatz - und das ist mir auch gelungen», sagt er. Und was
Seehofer noch einhält (und was viele ihm nicht zugetraut hätten):
Dass er, der einst mit wenigen Worten Koalitionen ins Wanken bringen
oder seine ganze Partei verunsichern konnte, nun seit zweieinhalb
Jahren schweigt, von ganz seltenen Ausnahmen abgesehen. Am Donnerstag
(4. Juli) nun feiert er seinen 75. Geburtstag.

Seehofer genießt sein neues, ruhigeres Leben fernab von München und
Berlin. «Das ist ein unheimlicher Befreiungsschlag: Keinen
Verantwortungsdruck mehr haben, in keine festen Pläne mehr
eingebunden sein. Ich mache nur noch Wohlfühltermine und was mir Spaß
macht», sagt er. «Ich setze mich hier vor Ort für die Hochschulen,
die Kirche, Sportvereine ein, helfe mit Rat und manchmal auch mit
Tat. Außerdem bin ich viel in der Natur unterwegs, gehe zu vielen
Stammtischen und Gesprächskreisen mit Freunden. Mir wird nicht
langweilig.» Und Seehofer liest viel, fährt Fahrrad, E-Bike, arbeitet
nebenbei an der Digitalisierung seiner Modelleisenbahn. Die
Nachrichten scannt er täglich, aber nur wenige Artikel liest er
komplett.

«Ich gehe in keine Talkshow»

Auf CSU-Parteitagen oder bei Vorstandssitzungen hat man Seehofer als
Pensionär ohnehin nicht mehr gesehen. «Ich halte mich mit
öffentlichen Äußerungen komplett zurück, bis auf vielleicht ein
Interview pro Jahr. Ich gehe auch in keine Talkshow», sagt er und
betont: «Vor allem die Grundentscheidung, die Politik meines
Nachfolgers nicht zu bewerten, war richtig.» Wobei man sagen muss:
Wie schlecht es um das Verhältnis Seehofer-Söder bestellt ist, ist
allgemein bekannt. Dazu braucht es keine neuen Interviews, von keinem
der beiden.

Söder gratuliert Seehofer - natürlich ohne all dies zu erwähnen -
vorab: Bayern habe ihm viel zu verdanken. «Er hat Krisen gemanagt in
schwierigen Zeiten, aktiv Zukunft gestaltet und den Menschen als
Landesvater Zuversicht gegeben.» Seehofer habe sich als
Vollblutpolitiker große Verdienste erworben und könne auf ein
eindrucksvolles Lebenswerk zurückblicken.

Interessant ist indes schon, was Seehofer in einem aktuellen
Interview der «Augsburger Allgemeinen» über die Lage von CDU und CSU

sagt: dass er das Potenzial für die Union insgesamt bei 30 bis 40
Prozent sieht, und für die CSU bei «weit über 40 Prozent». «Wir
erreichen derzeit aber nur den unteren Rand, bestenfalls.» In den
vergangenen Jahren sei eigentlich überhaupt kein Wahlergebnis mehr
aus seiner Zeit erreicht worden. «Ich schildere nur Tatsachen, ohne
Vorwurf», schiebt Seehofer hinterher. Und wen hält er für den
richtigen Mann für die Unions-Kanzlerkandidatur, CDU-Chef Friedrich
Merz? «Ja», sagt Seehofer. «Er macht seine Arbeit als Partei- und
Fraktionsvorsitzender sehr gut. Er hat die CDU geordnet.»

Mehr als vier Jahrzehnte Politik

Seehofers Lebensleistung wird indes nicht einmal von den seinen
politischen Gegnern und Kontrahenten ernsthaft in Zweifel gezogen.
Einen Großteil seines Lebens, insgesamt mehr als vier Jahrzehnte, hat
er in den Dienst der Politik gestellt. Insgesamt 28 Jahre saß er für
die CSU im Bundestag. Er brachte es zum Bundesminister, zum
Parteichef und bayerischen Ministerpräsidenten. Dabei hat er Höhen
und Tiefen erlebt wie kaum ein anderer, persönlich und politisch.
2002 erlitt er eine Herzmuskelentzündung, die ihn fast das Leben
kostete. 

Und auch politisch durchlebte Seehofer ein Auf und Ab: Seine gesamte
Karriere stand auf dem Spiel, als er einst im Streit über die
Gesundheitspolitik als Bundestags-Fraktionsvize zurücktreten musste.
Jahre später unterlag er im Kampf um den CSU-Vorsitz seinem Rivalen
Erwin Huber - bevor er nach der Landtagswahl-Pleite 2008 doch noch
zum Zuge kam. 

Als bayerischer Ministerpräsident regierte Seehofer einige Jahre lang
unangreifbar - aber nicht unumstritten: Seine Kritiker warfen ihm
einen autokratischen Regierungsstil vor. Und dass er ein gnadenloser
Populist sei und seinen Kurs ändere wie ein Fähnchen im Wind.

«Soziales Gewissen» der CSU

Ein historisch bleibendes Verdienst Seehofers ist eine Reise, die ihn
Ende 2010 nach Prag führte. Seehofer war es, der nach langem Streit
um die Vertreibung der Sudetendeutschen eine politische Eiszeit
beendete: Mit dem ersten Besuch eines bayerischen Regierungschefs in
Prag schlug er damals ein ganz neues Kapitel in den Beziehungen zu
Tschechien auf. Und was Seehofer noch auszeichnete: ein sozialer
Kompass, der manchen Politikern heute zu fehlen scheint. «Soziales
Gewissen» der CSU wurde er früher genannt, mit einem Blick für die
«kleinen Leute» - auch er selbst hatte sich aus ärmeren Verhältniss
en
hochgearbeitet. 

«Das schönste Amt war tatsächlich das Ministerpräsidenten-Amt, wege
n
des Kontakts zu so vielen Menschen überall im Land», sagt Seehofer
heute. «Manche meinen ja sogar, Sie sind der Königsnachfolger, daran
hat sich bis heute nichts geändert. Und die schönste Erfahrung war,
dass wir 2013 die absolute Mehrheit im Landtag noch einmal
zurückerobern konnten.»

Siege und bittere Niederlagen

Doch auf Höhenflüge wie diesen folgten auch in Bayern schmerzliche
Niederlagen für Seehofer. Sein Karriereende als bayerischer
Ministerpräsident und als CSU-Chef zögerte er hinaus, ungeachtet
immer neuer Wahlpleiten. Bis der wachsende CSU-interne Druck ihn
schließlich zum Ämterverzicht auf Raten zwang. Es war eine der
letzten bitteren Niederlagen Seehofers: Er musste damals ausgerechnet
seinem langjährigen Rivalen Söder Platz machen.

Doch Seehofer machte weiter - in Berlin. Mit damals 68 Jahren wurde
Seehofer Anfang 2018 Bundesinnenminister, mit Zuständigkeiten auch
für Bauen und Heimat. Unter Kanzlerin Angela Merkel, mit der er sich
zuvor jahrelang über die Flüchtlingspolitik gestritten hatte.

Seehofer aber blieb sich treu: Auch im neuen Amt brachte er ab und an
die halbe Republik gegen sich auf. Einmal drohte er Merkel
spektakulär mit Rücktritt, wieder ging es um die Asyl- und
Flüchtlingspolitik - um dann am Ende doch klein beizugeben.
Spektakuläre Volten stellte Seehofer, im Brustton der Überzeugung, im
Übrigen stets als völlig stringent dar.

Eigene Fehler sieht er rückblickend nur einzelne. «Meine erste Reform
als Bundesgesundheitsminister würde ich heute anders gestalten,
flexibler, nicht mehr so hart», sagt er. Kritik, er habe als
bayerischer Ministerpräsident den Bau von Stromtrassen oder
Windrädern gebremst, lässt er nicht gelten. «Ich stehe zu dem, was
wir entschieden haben, und zwar zu 100 Prozent», sagt er. «Wir haben
dadurch viel Unfrieden vermieden.»

Was wünscht er sich für die Zukunft? «Politisch hätte ich einen
Wunsch: dass noch deutlich mehr getan wird für Kinder aus
benachteiligten Familien - damit diese auch eine vernünftige
Ausbildung bekommen. Bildung ist nun einmal das Tor zum Leben», sagt
er. «Und persönlich habe ich eigentlich nur einen Wunsch: Gesundheit
für meine Umgebung und für mich.»