Branche mit Schmerzen: Physiotherapeuten beklagen Bürokratie Von Jörg Schurig, dpa

Von der DDR blieb im vereinten Deutschland wenig übrig. Ein Relikt
betrifft die Berufsbezeichnung Physiotherapeut. Nachdem nunmehr
gleiche Bezahlung in Ost und West gilt, wächst Frust über Bürokratie.


Dresden (dpa) - Physiotherapeuten brauchen heutzutage nicht nur
kräftige Hände, sondern auch Adleraugen. Denn wer einen winzigen
Fehler auf einer ärztlichen Verordnung übersieht, kann das später
nicht bei der Kasse geltend machen und bleibt auf dem Trockenen
sitzen. «Wir müssen extrem aufpassen, dass die Rezepte stimmen. Als
Leistungserbringer haben wir eine Prüfpflicht. Das ist ein hoher
Aufwand», heißt es im VDB-Physiotherapieverband, Landesverband Ost.
Die Kolleginnen und Kollegen würden sich meist nach Feierabend oder
am Wochenende mit der Abrechnung hinsetzen, damit ihnen Fehler im
Tagesgeschäft nicht unterlaufen.

Das kann verheerend sein. Der Verband berichtet von Fällen, in denen
die sogenannten Absetzungen der Krankenkassen - Abzüge von der
ursprünglichen Rechnung - bei 100 Prozent liegen. Manche Kollegen
würden schon von vornherein davon ausgehen, dass sie nicht alles
zurückbekommen und die Absetzungen einpreisen, heißt es. Bei der
Krankengymnastik für Neurologie-Patienten könne man bei 20
Behandlungen mit Hausbesuch schon mal auf eine Rezept-Summe von mehr
als 1000 Euro kommen. «Wenn da ein Arzt auf dem Rezept einen Fehler
gemacht hat und wir übersehen das, laufen wir Gefahr, leer
auszugehen», sagt ein Verbandsmitglied, das nicht namentlich genannt
werden möchte.

Das Grundproblem: Physiotherapeuten gehen mit ihren Leistungen in
Vorkasse. Die Kassen wiederum sitzen damit am längeren Hebel und
können nach möglichen «Schlupflöchern» in der Abrechnung suchen,
um
am Ende nicht alles erstatten zu müssen. «Die Absetzungen kommen
regelmäßig vor, sind Alltag», sagt Janine Gasch, Leiterin der
VDB-Geschäftsstelle in Chemnitz. Um alles haarklein zu sichten,
müssten Praxen Personal einstellen. «Das entlastet zwar den
Therapeuten, muss aber erst einmal erwirtschaftet werden.» Die
meisten Kollegen könnten sich solch einen Aufwand gar nicht leisten.
Manche würden wegen des Risikos manche Leistungen gar nicht mehr
anbieten, etwa Hausbesuche.

Die Zwickmühle mit den Kassen und überbordende Bürokratie sind laut
VDB nicht die einzigen Probleme der Branche. Als Wirtschaftsverband
der Selbstständigen ist der Physiotherapieverband Landesverband Ost
für etwa 330 Mitglieder in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen
zuständig. Für den Berufsstand gibt es mehrere Verbände in
Deutschland, in manchen Fragen sind sie aufgrund unterschiedlicher
Interessenlagen uneins. Der VDB hält es etwa für richtig,
Behandlungsmethoden wie manuelle Therapie und Lymphdrainage gleich in
die dreijährige Ausbildung zu integrieren. Bisher müssen sie per
Zertifikat im Anschluss erworben werden. Das kostet Zeit und Geld.

Doch Zertifikate und die damit verbundene Weiterbildung gehören zum
Geschäftsmodell einzelner Verbände. VDB-Chef Bert Krüger schätzt
zudem ein, dass der Bereich Pflege in Deutschland eine viel bessere
Lobby hat. Medizinische Dienstleister wie Ergotherapeuten, Logopäden
und Physiotherapeuten seien immer das fünfte Rad am Wagen. Es könne
nicht sein, dass ein Physiotherapeut nach der langen Ausbildung
bestimmte Behandlungen erst nach einer Zusatzqualifikation machen
darf. Das sei nur in bestimmten Feldern etwa der Neurologie
sicherheitshalber notwendig, nicht aber bei manueller Therapie,
Lymphdrainage oder Krankengymnastik am Gerät.

Krüger schlägt vor, die Ausbildung nicht mehr auf einzelne Fächer wie

Orthopädie, Chirurgie und Neurologie auszurichten, sondern mehr von
der «Lernfeldern» her zu denken - etwa welche Behandlungsmethoden es
für die jeweiligen Gelenke wie Knie, Hüfte oder Schulter gibt. «Die
Ausbildungs- und Prüfungsverordnung ist etwa 30 Jahre alt. Das ist
nicht mehr zeitgemäß. Die Ausbildung muss sich nicht verlängern, wir

brauchen aber ein klügeres System.»

Die Physiotherapeuten im Osten sind zumindest froh, dass sie nach gut
30 Jahren endlich die gleiche Vergütung bekommen wie die Kollegen im
Westen. Zwar gab es auch zwischen Hamburg und München Unterschiede,
aber die ostdeutschen Berufskollegen hinkten im Schnitt mit 20
Prozent weniger Entlohnung hinterher - bei gleichen Leistungen und
gleichen Fortbildungskosten. Erst der frühere
Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) habe Gleichstand
hergestellt, ist man noch heute beim VDB-Verband dankbar.

Dennoch wünscht man sich hierzulande eine angemessene Anerkennung und
nicht immer wieder harte Verhandlungsrunden inklusive
Schiedsverfahren mit den Krankenkassen. Die Kassen würden zwar immer
wieder betonen, wie wichtig Physiotherapeuten seien, weil sie
beispielsweise auch den Rückenschmerz akut behandeln, sagt Krüger:
«In der Corona-Pandemie gehörten wir zur kritischen Infrastruktur.
Tatsächlich entlasten wir die Krankenkassen, weil wir Vorsorge und
Nachsorge betreiben. Die Kassen sind dankbar, dass es uns gibt. Aber
das zahlt sich für uns nicht in barer Münze aus.»

Auch in einem anderen Punkt besteht der VDB auf seiner Position: Eine
Pflicht zum Studium für Physiotherapeuten soll es nicht geben. «Jeder
Physiotherapeut, der das möchte, soll studieren. Ein
vollakademisierter Beruf darf es aber nicht werden. Denn dann würden
wir die Absolventen der 10. Klasse abschrecken.» Mit einem Bachelor
oder Master in der Tasche werde vermutlich kein Physiotherapeut mehr
die klassische Arbeit an der Behandlungsliege machen wollen», sagt
Krüger. Außerdem würde man so auch vielen blinden Menschen eine
solche Berufslaufbahn verwehren oder zumindest erschweren.