Das EEG entschlüsselt seit 100 Jahren unser Gehirn Von David Hutzler, dpa

100 Jahre nach seiner Entdeckung ist das EEG nicht nur täglicher
Begleiter in der Medizin. Auch Elon Musk nutzt die Erfindung für
seine Gehirnimplantate. Andere versuchen sich damit am Gedankenlesen.

Jena (dpa) - Ein Jenaer Psychiater zeichnete vor 100 Jahren zum
ersten Mal die elektrische Aktivität des menschlichen Gehirns auf und
schuf damit auch die Grundlage für heutige Hirnimplantate. Dem
Erfinder Hans Berger gelang am 6. Juli 1924 eine
Elektroenzephalografie (EEG). Das Verfahren hat nicht nur die
Erkenntnisse über das Gehirn revolutioniert, sondern auch vielfältige
Anwendungen im klinischen Alltag ermöglicht, etwa bei der Diagnose
von Epilepsie und ADHS. Derzeit schreitet die Entwicklung dank
Künstlicher Intelligenz (KI) rasant voran. Können wir sogar bald
Gedanken lesen? 

Elektroden, Kabel, viele Kurven: Wie alles funktioniert 

Für den Laien sieht ein EEG-Aufbau etwas befremdlich aus: An einen
Kopf werden viele kleine Metallplättchen - sogenannte Elektroden -
geklebt und mit einem Computer verkabelt. Sie sollen die elektrische
Aktivität des Gehirns aufzeichnen. Auf einem Bildschirm erscheinen
Kurven in bestimmten Mustern, das Elektroenzephalogramm - ebenfalls
EEG genannt. 

Die Muster lassen sich zum einen aktiv beeinflussen, etwa durch das
Schließen der Augen. Zum anderen können Fachleute je nach Verlauf der
Linien auch Krankheiten wie Epilepsie erkennen. «Man braucht viel
Expertise, um Böses von Sachen zu unterscheiden, die nur böse
aussehen, aber nicht böse sind», erklärt der Leiter des
Epilepsie-Zentrums am Klinikum der Universität München, Jan Rémi. 


Um etwa Epilepsie zu diagnostizieren, könne das EEG nach einem Anfall
angelegt werden. Zeigten die Kurven ein bestimmtes Schema, habe der
Patient Epilepsie. Schlage medikamentöse Behandlung nicht an, könne
man mit einem EEG auch die Gehirnregionen bestimmen, von denen die
Epilepsie ausgehe - und diese im Zweifel entfernen. 

Können wir bald Gedanken lesen? 

Für die endgültige Diagnose werde das menschliche Auge immer wichtig
bleiben, ist Rémi überzeugt. Aber mithilfe Künstlicher Intelligenz
ließen sich künftig etwa charakteristische Linien vorfiltern, die
dann noch überprüft werden müssten. EEG-Signale mit ihren Hunderten
und Tausenden von Wellen böten zig Analysemöglichkeiten, die künftig

mithilfe von KI besser ausgewertet werden könnten. «Vom Gedankenlesen
sind wir noch weit entfernt. Aber ich glaube schon, dass man in den
nächsten Jahren erkennen kann, ob jemand lügt oder nicht.» 

Für den EEG-Forscher Gyula Kovács von der Universität Jena ist der
Einzug der KI «die wichtigste Entwicklung der letzten paar Jahre für
die Analyse von EEG-Daten». Darüber ließen sich bestimmte Teile des
Bewusstseins sichtbar machen. «Das war früher absolut nicht möglich.
»
Zum Beispiel lasse sich nachverfolgen, ob jemand eine Serie gesehen
habe oder nicht, oder ob jemand einen Menschen wiedererkenne. Da
müsse man auch die ethische Frage stellen, wie weit man die Technik
überhaupt anwenden wolle. 

Forscher wollen Gedankenkraft nutzbar machen

Auch die Technologie der Gehirnimplantate-Firma Neuralink des
US-Milliardärs Elon Musk baut auf der Logik der
Elektroenzephalografie auf: Hier sollen 1024 Elektroden die Signale
des Gehirns so auffangen, dass Menschen nur durch ihre
Vorstellungskraft etwa einen Computer-Cursor bedienen können. Im
Januar bekam der erste Patient einen solches Hirnimplantat. Neuralink
räumte zuletzt Probleme ein - so hätten sich einige Elektroden wieder
gelöst. 

In der Vergangenheit hatte es auch schon US-Studien gegeben, in denen
Menschen etwa eine Handprothese mit Kraft ihrer Gedanken bewegen
konnten, wie der Neurowissenschaftler Stefan Schweinberger von der
Universität Jena sagt. Diese Einzelstudien seien aber sehr aufwendig
und invasiv. «Das ist sicher kein Verfahren, das in der Breite jetzt
oder in absehbarer Zukunft verfügbar sein wird.»

Berger: Erfinder, Zweifler und strittige Figur

Als der Psychiater Hans Berger am 6. Juli 1924 - einem Sonntag - in
seinem Labor in Jena zum ersten Mal die elektrische Aktivität eines
menschlichen Gehirns aufzeichnete, war all das noch Zukunftsmusik.
Schon knapp 50 Jahre zuvor waren solche Aufzeichnungen bei Tieren
gelungen. Der als pedantisch und kritikscheu geltende Berger haderte
dennoch lange mit seinen ersten Befunden und ging erst 1929 damit an
die Öffentlichkeit. Ein Jahr zuvor hatte er noch resigniert in seinem
Tagebuch notiert: «Ich habe mehrere Jahre an dem vermeintlichen EEG
gearbeitet. Was nun? EEG aufgeben!»

Mitte der 1930er-Jahre fanden seine Erkenntnisse aber Anerkennung und
namhafte Befürworter wie den britischen Neurophysiologen und
Nobelpreisträger Edgar Douglas Adrian. Berger widmete sich den
verschiedenen Anwendungsfällen seiner Entdeckung, wie etwa
EEG-Veränderungen im Schlaf, bei Hirntumoren oder auch bei
Epilepsie. 

In der Zeit des Nationalsozialismus war Berger SS-Fördermitglied und
wirkte an Zwangssterilisationen mit. Die nach ihm benannte Klinik für
Neurologie in Jena legte 2022 den Namen Hans-Berger-Klinik ab. 

EEG bei der Behandlung von ADHS und anderen Diagnosen 

Was bleibt, ist ein Goldstandard in einigen klinischen Bereichen:
Neben der Diagnose werde das EEG beispielsweise auch verwendet, um
die Tiefe einer Narkose zu erkennen, erklärt Mediziner Rémi. «Das
hilft uns, Narkosemittel zu sparen.» Auch die Schwere von Hirnschäden
lasse sich beurteilen, bis hin zur Feststellung des Hirntods. Im
Schlaflabor werde das EEG verwendet, um Schlafphasen voneinander zu
unterscheiden.

Bergers Erfindung bietet darüber hinaus ein weites Forschungsfeld,
das auch an seiner alten Wirkungsstätte in Jena vorangetrieben wird.
Dort möchten Forscher mittels EEG herausfinden, ob Autisten über
sogenanntes Neurofeedback bestimmte Gehirnaktivitäten unterdrücken
können. 

Die Patienten können dabei ihre Hirnaktivität quasi auf einem
Bildschirm sehen und trainieren, sie willentlich zu verändern.
Konkret geht es um eine spezifische Hirnaktivität, die üblicherweise
in bestimmten Situationen heruntergeregelt ist, bei Autisten aber
nicht. Bei den Patienten werden Elektroden auf der Kopfhaut platziert
und sie bekommen einen Film zu sehen, der nur dann störungsfrei
weiterläuft, wenn diese Hirnaktivität unter einer bestimmten Schwelle
bleibt. 

Bei der Behandlung von ADHS-Patienten wird die Technik schon länger
verwendet, auch bei Schlaganfall-, Tinnitus- und Long-Covid-Patienten
gibt es erste Versuche.