Leidensweg einer Polizistin - Gewalt gegen Beamte nimmt zu Von Julia Giertz und Stefan Puchner , dpa

Die Messerattacke auf einen Mannheimer Polizisten rückt die wachsende
Gewalt gegen Beamte ins Bewusstsein. Eine Polizistin hat das am
eignen Leib zu spüren bekommen. Seit Jahren kämpft sie mit Folgen.

Ulm (dpa/lsw) - Kerzen, Blumen und ein Foto eines sympathischen
jungen Mannes erinnerten jüngst am Eingang zum Ulmer Polizeipräsidium
an den getöteten Mannheimer Polizisten Rouven Laur. Ein Gedenkort,
der bei Polizistin Yvonne Gasser auf dem Weg zum Arbeitsplatz
schlimme Erinnerungen wachruft. Die Oberkommissarin ist auch ein
Opfer von Gewalt gegen Polizisten. 

Sie hat einen brutalen tätlichen Angriff Anfang 2021 überlebt, doch
das Ereignis hat die gestandene Beamtin wörtlich und sprichwörtlich
umgehauen. Sie leidet bis heute unter den Folgen der Eskalation bei
einer Verkehrskontrolle. Mit der PULS-Studie der Ulmer Polizei, des
Universitätsklinikums Ulm und der Deutschen Traumastiftung soll
traumatisierten Beamten und Beamtinnen wie Gasser auf Basis
wissenschaftlicher Erkenntnisse geholfen werden.

Die Zahlen der Fälle und Opfer haben laut Bundeskriminalamt traurige
Rekorde erreicht: Die Zahl der registrierten Gewalttaten gegen
Polizisten stieg im Jahr 2022 um fast acht Prozent auf 42.777.
Insgesamt rund 96.200 Polizisten wurden Opfer einer Gewalttat - 8,6
Prozent mehr als im Vorjahr. 

Die Zahl der Tötungsdelikte stieg auf 37 Fälle (2021: 30). Im
Gegensatz zum Jahr 2021 handelt es sich hierbei nicht nur um
Tötungsversuche, sondern auch um vollendeten Mord an einer Polizistin
und einem Polizisten im rheinland-pfälzischen Landkreis Kusel bei
einer Kontrolle wegen Wilderei.

Wertschätzung gegenüber Ordnungshütern nimmt ab

Die psychosoziale Beraterin des Polizeipräsidiums Ulm, Ulrike Renz,
hat bemerkt, dass sich die Respektlosigkeit nicht nur gegen
Polizisten, sondern auch gegen Rettungskräfte verschärft hat. So habe
sich etwa das Anspucken von Einsatzkräften in den letzten Jahren
gesteigert. «Wenn einem der Speichel eines Fremden in den Mund gerät,
ist das besonders scheußlich und eklig - da wird die Barriere
zwischen innen und außen durchbrochen.»

Derartiges erlebte auch Gasser in jener Silvesternacht 2020/2021.
Eine eskalierte Verkehrskontrolle kurz vor Dienstschluss ändert ihr
Leben grundlegend: Ein angehaltener Autofahrer kann erforderliche
Papiere nicht vorweisen. Er gerät während der Überprüfung so in Rag
e,
dass die kräftige Beamtin und ein weiterer Kollege ihn kaum zur Räson
bringen können. 

Durch Schläge und Tritte des mutmaßlichen Täters kommt Gasser mit
Verdacht auf ein Schädel-Hirn-Trauma in eine Klinik. «Tage später
konnte man noch den Abdruck eines Schuhs auf ihrer Stirn sehen»,
erzählt Renz, die als Polizeihauptkommissarin leichten Zugang zu
ihren Kollegen hat. 

Schwere Suche nach Therapeuten

Während der Abdruck verschwand, blieben andere schwerwiegende Folgen
- Panikattacken, Herzrasen und Schweißausbrüche. «Schnelle
professionelle Hilfe - Fehlanzeige», resümiert die 45-jährige Gasser.

Heute haben Beamte mit posttraumatischer Belastungsstörung bessere
Chancen auf rasche Unterstützung, weil die Krankenkassen Therapien
für Polizisten höher honorieren. 

Das Kernstück der vom Land mit 170.000 Euro geförderten PULS-Studie
ist eine 24 Stunden lange Pulsmessung. Sie soll helfen, mögliche
Traumafolgen sichtbar zu machen. Bei Gasser sind das Kopfweh,
Empfindungsstörungen in den Armen, Nackenprobleme - und das im
vierten Jahr nach dem Angriff. Aus den objektiven
Körperreaktionsdaten werden im Beratungsgespräch Stressfaktoren und
Ressourcen im Dienstalltag identifiziert und Schlussfolgerungen
gezogen, wie Projektleiter Marc Jarczok von der Uniklinik Ulm
erzählt. 

Verbrechen an Kindern für Beamte besonders belastend

Auf einer Belastungsskala rangiert die Konfrontation mit
misshandelten, verletzten und toten Kindern ganz oben, gefolgt von
Suizid eines Kollegen, Umgang mit sexuellem Missbrauch von Kindern,
Gefährdung des eigenen Lebens und schwere Verletzung eines Kollegen.
«Solche Erlebnisse lassen manch einen nicht mehr los, man träumt
davon und erinnert sich beim kleinsten Anlass daran», erläutert
Jarczok und fügt hinzu: «Schlimmstenfalls bedeutet das ein
Karriereende.»

Beraterin Renz nennt andere Beispiele: Im EKG sichtbare Überforderung
kann durch Verzicht auf Pausen entstehen. Das könne leicht behoben
werden, indem man zum Beispiel feste Zeiten für einen Imbiss
einplant. Bei anderen Probanden ergebe sich, dass bislang als
unproblematisch empfundene Tätigkeiten wie Autofahren Stress
auslösen.

Traumata mit Meditation bekämpfen 

Auf Gassers individuellem Rezept stehen kurzer Mittagsschlaf,
Meditation, Physiotherapie und Spritzen. Was ihr besonders zu
schaffen macht: «Den Streifendienst vermisse ich sehr, und ich würde
sofort wieder anfangen, wenn mein Psychologe nicht dringend davon
abraten würde.» Gasser wechselte nach über 20 Jahren auf Streife
schweren Herzens in den Innendienst und ließ sich zur Beauftragten
für Chancengleichheit aufstellen. 

Nach Worten von Jarczok sind Polizisten im Vergleich mit anderen
Berufsgruppen wie Ingenieuren deutlich reflektierter, denn in
kritischen Momenten müssen sie effizient funktionieren.
«Entscheidungen werden in Sekundenbruchteilen von der Vernunft und
nicht von Gefühlen getroffen. Dies gewährleistet den Schutz anderer
sowie den Selbstschutz.»

Wenn plötzlich ein persönlicher Bezug zu den Ereignissen entsteht,
kann dieser Selbstschutz Risse bekommen - bis hin zu einer
posttraumatischen Belastungsstörung wie bei Gasser. Um solchen
Entwicklungen flächendeckend entgegenzuwirken, soll das Konzept nun
in das betriebliche Gesundheitsmanagement der 13 Polizeipräsidien in
Baden-Württemberg einfließen. 

Polizistin Gasser macht neben ihrer beeinträchtigten psychischen und
körperlichen Gesundheit zu schaffen, dass ihr Peiniger keine
Verantwortung für sein Handeln übernimmt und sich das Strafverfahren
in die Länge zieht. Gasser hofft, dass bald ein Urteil gefällt wird,
damit sie das schmerzhafte Kapitel ihres Lebens halbwegs abschließen
kann.