«Dr. Ruth»: Berühmte Sex-Therapeutin Ruth Westheimer ist tot Von Christina Horsten, dpa

Die in Deutschland geborene Ruth Westheimer überlebte den Holocaust
und wurde in den USA zur wohl bekanntesten Sex-Therapeutin des
Landes. Jetzt ist «Dr. Ruth» im Alter von 96 Jahren gestorben.

New York (dpa) - Gerade einmal 1,44 Meter war Ruth Westheimer groß.
Aber «wenn Größe in Mut, Entschlossenheit und harter Arbeit gemessen

würde, müsste diese kleine Frau 2,50 Meter groß sein», schrieb der

«Newsday» einmal. Die in Deutschland geborene Westheimer überlebte
den Holocaust und wurde in den USA zu «Dr. Ruth», der wohl
berühmtesten Sex-Therapeutin der Welt. Am Freitag ist Westheimer im
Alter von 96 Jahren in Anwesenheit ihrer beiden Kinder gestorben,
bestätigte Sprecher Pierre Lehu, mit dem sie auch mehrere Bücher
gemeinsam schrieb, der Deutschen Presse-Agentur dpa.

Noch im vergangenen Jahr präsentierte sich Westheimer voller Energie.
In Cleveland im US-Bundesstaat Ohio gab es ein Theaterstück über ihr
Leben, 2020 erschien der Dokumentarfilm «Fragen Sie Dr. Ruth» und
kurz zuvor hatte der deutsche Generalkonsul David Gill ihr in New
York das Bundesverdienstkreuz verliehen. Westheimer habe ein
«abenteuerliches, unglaublich buntes Leben» und «die Gesellschaft
bereichert», sagte Gill damals.

Ihre Eltern wurden in Auschwitz ermordet

Geboren wird Karola Ruth Siegel 1928 in Wiesenfeld in der Nähe von
Frankfurt in eine jüdische Familie hinein. Als Zehnjährige, kurz vor
Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, wird sie mit einem Kindertransport
in die Schweiz gebracht. So entkommt sie dem Holocaust, ihre Eltern
und die geliebte Großmutter aber sieht sie nie wieder. Ihre Eltern
werden von den Nationalsozialisten im Konzentrationslager Auschwitz
ermordet.

Nach dem Krieg, noch als Teenager, zieht Ruth nach Palästina, wird
zur Scharfschützin ausgebildet und kämpft im Untergrund für ein
freies Israel. Dabei wird sie von einer Granate schwer verletzt.
Danach beginnt sie ein Studium an der Sorbonne in Paris. Ein Scheck
der Bundesregierung über 5.000 Mark zur Entschädigung für erlittenes

Leid ermöglicht es ihr 1956, in die USA umzusiedeln. Dort setzt sie
das Studium fort, heiratet Manfred Westheimer und bekommt zwei
Kinder. 1965 nimmt sie die US-Staatsbürgerschaft an.

Durchbruch mit Radio-Show in den 80er Jahren

Den Durchbruch schafft Westheimer Anfang der 80er Jahre mit einer
Radio-Show. Mit ansteckendem Rumpelstilzchen-Kichern gibt «Dr. Ruth»
Sex-Tipps und jongliert ohne jegliche Hemmung mit Begriffen wie
Ejakulation und Masturbation. Dem 15-minütigen Frage- und
Antwort-Programm «Sexually Speaking» bei einem New Yorker Lokalsender
folgen Einladungen von Fernsehstationen in aller Welt.
Hunderttausende suchen im Schutz der Anonymität den Rat der
mütterlichen Expertin. «Ihr Name und der ausgeprägte Klang ihrer
Stimme sind untrennbar mit dem Thema Sex verbunden», schrieb die «New
York Times» einmal.

«Die Fragen sind überall die gleichen», sagte Westheimer einmal der
Deutschen Presse-Agentur. Zwar brüste sich jedes Land damit, die
besseren Liebhaber zu haben. Sie aber könne beileibe keinen
Weltbesten erkennen. Purer «Quatsch» sei auch das Bild vom angeblich
so puritanischen Amerika im Vergleich zu einem sexuell sehr viel
freieren Europa. Mehr als 30 Sex-Ratgeber hat Westheimer verfasst,
viele davon sind auch auf Deutsch erschienen.

Jedes Jahr kehrte sie nach Frankfurt zurück

In ihre Heimatstadt Frankfurt kehrte «Dr. Ruth» jedes Jahr zur
Buchmesse zurück. «Um den Bahnhof mache ich einen großen Bogen. Aber

in meiner alten Wohnung in der Brahmsstraße 8, im Nordend, habe ich
mich noch einmal umgeschaut», erzählte sie einmal. «Es ist schwierig

für mich, aber ich gehe stolz und mit geradem Rücken. Hitler hat
nicht gewonnen! Er wollte, dass ich sterbe. Stattdessen habe ich
jetzt Kinder und Enkelkinder. Damals war es eine Flucht. Jetzt
schlafe ich im «Frankfurter Hof». Wer hätte das gedacht?»

Noch zu ihrem 95. Geburtstag sagte sie auf die Frage, wie sie noch so
fit und fröhlich bleibe: «Mein Geheimnis ist, dass ich mich jeden Tag
frage: Was kann ich heute Abend machen? Und dann rufe ich jemanden an
und wir unternehmen etwas.» Sie habe kein Auto mehr, sondern fahre
Taxi, und sie organisiere alle ihre Verabredungen per Telefon, sagte
sie damals. «E-Mail benutze ich nicht, aber ich telefoniere den
ganzen Tag.»