Karlsruhe prüft Verbot ärztlicher Zwangsmaßnahmen abseits von Kliniken

Patienten zwangsweise zu behandeln, darf nur das letzte Mittel sein.
Das muss derzeit immer in einem Krankenhaus geschehen. Das
Bundesverfassungsgericht prüft das und nimmt Alternativen in den
Blick.

Karlsruhe (dpa) - Spritzen setzen, Blut abnehmen, Medikamente
verabreichen - und all das gegen den Willen der Betroffenen. Das ist
manchmal nötig - und als Ultima Ratio auch rechtlich erlaubt. Dabei
geht es um Menschen, die etwa aufgrund einer psychischen Krankheit,
einer geistigen oder seelischen Behinderung die Notwendigkeit einer
Behandlung nicht erkennen und danach handeln können. Das können zum
Beispiel Demente sein.

Nach geltender Rechtslage dürfen ärztliche Zwangsmaßnahmen nur in
Krankenhäusern durchgeführt werden, nicht aber in spezialisierten
ambulanten Zentren, in Pflegeheimen oder im häuslichen Umfeld. Das
gilt auch, wenn Betroffene durch den Transport ins Krankenhaus
gesundheitlich beeinträchtigt werden. Ob das mit dem Grundgesetz
vereinbar ist, prüft nun das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe.

BGH bezweifelt Vereinbarkeit mit Grundgesetz

Im konkreten Fall erlitt eine Frau aus Nordrhein-Westfalen, die laut
Bundesgerichtshof (BGH) unter anderem an paranoider Schizophrenie
erkrankt ist, Retraumatisierungen. Sie habe für manche Transporte in
die Klinik fixiert werden müssen. Ihr Betreuer beantragte, der
Patientin ein Medikament auf der Station des Wohnverbundes zu
verabreichen, in dem sie lebte. 

Gerichte lehnten das ab, so dass der Fall beim BGH landete. Dieser
hält die Rechtslage für unvereinbar mit der Schutzpflicht des Staates
vor Beeinträchtigungen der körperlichen Unversehrtheit und der
Gesundheit - und schaltete das Verfassungsgericht ein.

Gerichtspräsident Stephan Harbarth sagte zu Beginn der Verhandlung,
das Thema betreffe einen der «grundrechtssensibelsten Bereiche des
Erwachsenenschutzes». Einerseits müsse ein angemessener Schutz der
Betreuten sichergestellt sein, andererseits dürfe aber nicht
unverhältnismäßig in ihre Freiheitsrechte eingegriffen werden. «In

diesem Spannungsfeld bewegt sich auch die gesetzgeberische
Entscheidung, an welchem Ort - oder an welchen Orten - ärztliche
Zwangsmaßnahmen durchgeführt werden können.» Ein Urteil des Ersten

Senats wird erst in einigen Monaten erwartet. (Az. 1 BvL 1/24)

Gravierende gesundheitliche Folgen möglich

Thomas Pollmächer von der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und
Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde machte deutlich,
dass ein Transport ins Krankenhaus eine erhebliche Belastung für die
Betroffenen bedeuten könne. Allein die Fahrt dauere manchmal 20 bis
30 Minuten, die der Patient in der Regel bewusst mitbekomme. 

Bei Fixierungen könnten Menschen verletzt werden. Das könne bei einem
Transport schwerer sein als bei einer kurzfristigen Fixierung etwa
zur Medikamentengabe zu Hause. Im Einzelfall könnten die Einsätze
gravierende körperliche oder psychische Folgen haben, sagte er. Lebe
jemand beispielsweise in der Vorstellung, gefoltert zu werden, könne
dies verstärkt werden. 

Wenige Stimmen für Ausnahmen 

Die Bundesregierung will die bestehende Regelung beibehalten, machte
Ministerialdirektorin Ruth Schröder aus dem Bundesjustizministerium
deutlich. Es sei nicht möglich, Ausnahmen im Gesetz allgemein zu
regeln, ohne dass Tür und Tor für Zwangsmaßnahmen geöffnet würden
.
Ein kleines Loch in der Schutzmauer könnte einen Dammbruch auslösen.
Gerade in das private Umfeld der Menschen sollten Zwangsmaßnahmen
aber nicht eingreifen. Auch könnten in Krankenhäusern
multiprofessionelle Teams ihre Expertise einbringen.

Diese Position unterstützen auch Fachleute etwa des Deutschen
Richterbunds und der Bundesarbeitsgemeinschaft Selbsthilfe von
Menschen mit Behinderung, chronischer Erkrankung und ihren
Angehörigen. Hingegen sprach sich Kay Lütgens vom Bundesverband der
Berufsbetreuer*innen für Ausnahmen für Einzelfälle aus. «Genaue
Zahlen kann ich nicht dazu nennen.»

Unter anderem Ulrich Langenberg von der Bundesärztekammer machte
deutlich, wie individuell unterschiedlich sich Behandlungsorte und
-maßnahmen auf Betroffene auswirken können. Belaste es den einen,
wenn in den eigenen vier Wänden Zwang gegen ihn ausgeübt wird, werde
ein anderer traumatisiert, wenn aus dem vertrauten Umfeld gerissen
wird. 

Auch griffen stationäre und ambulante Versorgung ineinander, sagte
Langenberg. Es sei nicht so, dass eine gute Versorgung nur in
Kliniken möglich sei. Der Bevollmächtigte der Bundesregierung, Volker
Lipp, machte in der Diskussion um Alternativen am Beispiel von
Vorsorgevollmachten deutlich, dass Menschen in der Regel bestimmte
Behandlungen ausschließen würden und nicht bestimmte Behandlungsorte
wie Krankenhäuser. 

Defizitäre Datenlage

Grundsätzlich gilt, dass ärztliche Zwangsmaßnahmen gegen den Willen
Betroffener nur das letzte Mittel sein dürfen. Davor gibt es ein
mehrstufiges Prüfverfahren. Der Gesetzgeber kam so einer Entscheidung
des Verfassungsgerichts aus dem Jahr 2016 nach, dass der Staat nicht
einwilligungsfähige Betreute nicht sich selbst überlassen darf.
Deutlich wurde in der Verhandlung, dass Daten etwa zu Auffälligkeiten
bei Zwangsbehandlungen fehlen und selbst Fachbetreuer häufig für die
spezielle Problematik nicht geschult sind.

Das Thema betrifft grundsätzlich eine größere Zahl an Menschen,
wenngleich nicht alle durch zwangsweise Transporte traumatisiert
werden. Der BGH verweist in seinem Beschluss auf die damalige
Begründung des Gesetzentwurfs. Demnach sind psychisch Erkrankte, bei
denen eine sogenannte Depotmedikation mit Neuroleptika in
regelmäßigen Abständen wiederholt werden soll und bei denen aus
medizinischer Sicht die Zwangsmaßnahme nicht in einem Krankenhaus
durchgeführt werden müsste, eine zahlenmäßig relevante Gruppe.

Online-Wechsel: In drei Minuten in die TK

Online wechseln: Sie möchten auf dem schnellsten Weg und in einem Schritt der Techniker Krankenkasse beitreten? Dann nutzen Sie den Online-Beitrittsantrag der TK. Arbeitnehmer, Studenten und Selbstständige, erhalten direkt online eine vorläufige Versicherungsbescheinigung. Die TK kündigt Ihre alte Krankenkasse.

Jetzt der TK beitreten





Zur Startseite