Trotz aller Technik: Gebärdensprache ist wichtig für taube Kinder Von Anja Sokolow, dpa

Viele Eltern gehörloser Kinder setzen Hoffnung in Cochlea-Implantate
und das Erlernen der Lautsprache. Experten betonen, dass die
Gebärdensprache ein wichtiges Mittel zur Kommunikation bleibe.

Berlin/Hamburg/Hannover (dpa) - Wenn Eltern mit ihren Kindern reden
wollen, ist das nicht immer ganz einfach. Doch was, wenn beide nicht
einmal eine gemeinsame Sprache sprechen? Hörende Eltern und ihre
tauben Kinder stehen mitunter schon bei alltäglichen Dingen vor
Problemen: Die Eltern können ihr Kind nicht einfach fragen, was es
essen möchte. Sie können ihm auch nicht sagen, dass sie es liebhaben.
«Man hat keine Kommunikation mit seinem eigenen Kind», sagt Romy
Ballhausen, Mutter eines gehörlosen Sohnes und Vizepräsidentin des
Bundeselternverbands gehörloser Kinder. 

Möglich wird Kommunikation mit der Gebärdensprache mit ihren
visuellen Gebärden, der Mimik und Oberkörperbewegungen. Doch viele
Eltern setzen laut Ballhausen eher auf technische Geräte wie
Cochlea-Implantate (CI) und das Erlernen der Lautsprache. «Ärzte
stellen den Eltern oft in Aussicht, dass die Kinder mit CI gut hören
lernen und die Deutsche Gebärdensprache nicht brauchen», sagt
Ballhausen. «Man kann sich unserer Erfahrung nach aber nicht zu 100
Prozent auf die Technik verlassen, weil sie bei einigen Kindern gar
nicht und bei anderen Kindern nicht in jeder Gesprächssituation
funktioniert. Die Kinder haben auch kein Backup, wenn sie einmal
ausfällt», sagt die Hamburgerin. 

Vielfach können Gehörlose oder Schwerhörige mühelos über Stunden
über
Gebärdensprache miteinander quatschen, sind bei Lautsprache-Runden
aber rasch ermattet, weil sie sich extrem konzentrieren müssen, um
der Kommunikation folgen zu können. Denn: Das elektronische Hören mit
einem Hörgerät oder einem CI ist anders als das natürliche Hören.
CI-Träger haben oft Schwierigkeiten in lauten Umgebungen oder bei
Hintergrundgeräuschen. Das Verstehen von Sprache in solchen
Situationen kann herausfordernd sein. Auch Musik klingt teils nicht
sonderlich angenehm und die Lärmempfindlichkeit kann erhöht sein. 

Probleme trotz Technik 

«Etwa 30 bis 50 Prozent der Kinder haben trotz der Technik Probleme
in der Lautsprachentwicklung», sagt Claudia Becker, Professorin für
Gebärdensprach- und Audiopädagogik an der Humboldt-Universität
Berlin. Ein störungsfreies, entspanntes Hören sei mit Implantat oft
nicht möglich. «Das fängt schon bei kleineren Gruppen an, in denen
alle durcheinander reden.» 

Ein CI ist eine elektronische Innenohrprothese. «Cochlea-Implantate
übernehmen die Funktion der Sinneszellen, indem sie den Schall
aufnehmen und daraus elektrische Impulse bilden, die zur weiteren
Verarbeitung ins Gehirn gegeben werden», erklärt Thomas Lenarz,
Professor für Hals-Nasen-Ohrenheilkunde und Direktor der HNO-Klinik
der Medizinischen Hochschule Hannover. 

In Deutschland bekommen demnach jährlich etwa 5.500 Patienten ein CI,
davon etwa 600 in Hannover. Eine offizielle Statistik zur Zahl
gehörloser Menschen in Deutschland gibt es nicht. Der
Bundeselternverband gehörloser Kinder schätzt, dass es jedes Jahr
etwa 5.400 bis 8.400 Kinder zwischen 0 und 3 Jahren gibt, die mit
einer Höreinschränkung geboren wurden oder ertaubt sind. Von diesen
Kindern hätten etwa 90 bis 95 Prozent hörende Eltern. 

Thomas Lenarz meint, es sei nichts gegen Gebärdensprache einzuwenden.
«Ich würde nur nicht systematisch von Anfang an beides machen», sagt

er. «Die Dominanz der Lautsprache im gesamten Alltag, im Leben ist so
stark, dass es natürlich darauf ankommt, dass die Kinder diese auch
primär benutzen, weil sie damit natürlich alle Chancen haben.» 

Seiner Erfahrung nach bräuchten die meisten Kinder mit
Cochlea-Implantat die Gebärdensprache nicht. Er empfehle Eltern aber,
sich mit anderen Betroffenen auszutauschen. «Sie können sehr viel
authentischer und besser sagen, wie es bei ihnen gelaufen ist», so
der Arzt. 

Verband: Gebärdensprache wird oft vernachlässigt 

Feststellbar sind Hörbeeinträchtigungen schon wenige Tage nach der
Geburt bei einem Neugeborenenscreening. «Die Diagnose trifft viele
Familien wie ein Schock», sagt Robert Jasko, Referent bei der
Deutschen Gehörlosen-Jugend. Er kritisiert, dass viele Eltern allein
auf Technik setzten. «Dieser Weg, so gut er gemeint ist, führt oft
dazu, dass die natürliche Muttersprache des Kindes - die
Gebärdensprache - vernachlässigt oder erst spät in Betracht gezogen
wird». 

Auch Romy Ballhausen warnt: «Es geht viel Zeit mit Sprechtraining und
lautsprachlichen Übungen verloren, viel Kommunikation, die auch
anders möglich wäre, bleibt aus, die Entwicklung des Kindes kann
dauerhaft geschädigt werden.»

Die Gehörlosen-Jugend macht mit einem Video in sozialen Medien auf
mögliche schwerwiegende Folgen aufmerksam, die eine unzureichende
Kommunikation haben kann: Identitätskrisen, starke
Unsicherheitsgefühle, Depressionen oder auch Angstzustände. Auch die
Beziehung zu den Eltern könne sehr problematisch sein. Jasko spricht
von einem «unsichtbaren Riss» zwischen Eltern und Kindern, der sich
im Laufe des Lebens noch vertiefen könne. 

«Kinder lernen auch schwerer, sich in andere Menschen
hineinzuversetzen oder Konflikte zu lösen.
Sie können aggressiv werden oder sich zurückziehen», erklärt
die
Wissenschaftlerin Claudia Becker. 

Thekla Werk, Präsidentin des Bundeselternverbands gehörloser Kinder
und Gebärdensprach-Dozentin sagt, dass taube Kinder oft die Diagnose
ADHS erhielten. Doch die Kinder seien oft nur vermeintlich wild oder
aggressiv, weil sie sich nicht ausdrücken könnten. «Wenn ich in den
Familien bin und dort die Gebärdensprache unterrichte, erlebe ich,
dass die Kinder und die Familien insgesamt viel entspannter werden,
wenn sie eine gemeinsame Sprache finden.» 

Kurse sind teuer und schwer zu bekommen 

Gebärdensprachkurse für Familien finden meist zu Hause statt, damit
die Familien lernen, im Alltag zu kommunizieren. Anfangs seien es
etwa vier bis sechs Stunden pro Woche, später weniger, erklärt Werk.
Der Unterricht sei oft über Jahre nötig. Mit etwa 75 Euro pro 45
Minuten seien die Kurse relativ teuer und viele Familien deshalb auf
Unterstützung angewiesen. 

Wenn sich Eltern für das Erlernen der Gebärdensprache entscheiden,
würden ihnen mitunter viele Steine in den Weg gelegt, berichten
Betroffene. «Mein Antrag auf einen Haus-Gebärdensprachkurs lag zwei
Jahre auf dem Tisch eines Sachbearbeiters, dann zog sich die
Gerichtsverhandlung über vier Jahre, bis meine Tochter überhaupt
zweieinhalb Stunden pro Woche einen Kurs bekommen hat», sagt
Ann-Cathrin Wehmeier, Leiterin der Geschäftsstelle des
Bundeselternverbands gehörloser Kinder. 

Kleine Gebärden - etwa für Hunger, Durst, Schlafen, Mama, Papa -
könne man sich am Anfang selbst «zusammenpuzzeln», darüber hinaus s
ei
es ohne Unterricht schwierig, erklärt Wehmeier. Gebärdensprachen sind
ebenso komplex wie gesprochene Sprachen. Sie verfügen über ein
umfassendes Vokabular und eine eigenständige Grammatik.

«Es ist oft auch ein Problem der Fläche. Manchmal ist auch Geld da
ist, aber dann wohnt jemand in einer sehr ländlichen Gegend, in der
es keine taube Lehrkraft gibt, die die Familie unterrichten kann»,
sagt Claudia Becker. Verlässliche Daten darüber, wie viele Eltern
gehörloser Kinder die Gebärdensprache lernen, gibt es der
Wissenschaftlerin zufolge nicht. Der Elternverband schätzt, dass nur
in einer von zehn betroffenen Familien die Gebärdensprache erlernt
wird. 

Eltern und Kinder haben plötzlich eine gemeinsame Sprache

«Die Grundbedürfnisse können auf einmal geäußert werden, man hat
auf
einmal eine gemeinsame Sprache», berichtet Romy Ballhausen aus der
Erfahrung mit ihrem Kind. «Es gab plötzlich einen Entwicklungsschub,
mein Sohn konnte Fragen stellen, vorher war er dazu gar nicht in der
Lage.» 

Dass ihr Kind nun eine andere Erstsprache habe als sie selbst, sei
durchaus eine Herausforderung im Familienalltag, sagt Ballhausen.
«Aber wenn eine Vokabel fehlt, beschreibt man das eben etwas noch
einmal mit anderen Worten.» Aus ihrer Sicht war das Erlernen der
Gebärdensprache ein großer Schritt, der das Frustrationspotenzial
deutlich gesenkt und dem Kind den Zugang zum Weltwissen ermöglicht
habe. Das Erlernen sei eine herausfordernde, aber auch erfüllende
Reise: «Mit jeder Gebärde, die die Eltern lernen, öffnet sich ein
weiteres Fenster in die Welt ihres Kindes», sagt Robert Jasko. 

Verband fordert unabhängige Beratung 

Ballhausen betont, dass der Elternverband nicht gegen Technik wie CIs
sei: «Jede Familie muss ihren Weg finden, mit oder ohne technische
Unterstützung, aber Gebärdensprache muss auf jeden Fall angeboten
werden», sagt sie. Der Verband fordert eine unabhängige
Beratungsstelle, die alle Optionen aufzeigt. «Eltern sollen sehen,
dass ein erfülltes Leben ohne CI eine dieser Optionen ist, die sie
ebenso frei für ihre Kinder wählen können. Sie sollen eine
informierte Entscheidung treffen», so Ballhausen. 

 

 

 

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