«Mythos Jungfernhäutchen» - Zwischen Aufklärung und Kommerz Von Marco Krefting und Sunrita Sen, dpa
Ein Unternehmen aus Baden vertreibt Blutkapseln und «künstliche
Jungfernhäutchen». Es will helfen, erntet aber auch Kritik - und
macht so auf ein gesellschaftliches Phänomen aufmerksam.
Waghäusel (dpa) - Die meisten Kundinnen bestellen nur einmal,
Rezensionen gibt es kaum. Als «echt schräg» bezeichnet der Mann das
Geschäft, das er mit seiner Firma in Waghäusel bei Karlsruhe betreibt
- und das der Grund dafür ist, dass er lieber nicht namentlich
genannt werden möchte. Denn er vertreibt Blutkapseln und «künstliche
Jungfernhäutchen».
Was markant klingt, ist ein Pulver aus Lebensmittelfarbe und ein paar
Zusätzen, das Frauen sich wahlweise in einer Kapsel oder eingebettet
in zwei Zellulose-Membranen in die Vagina einführen können. Die
Kapsel soll sich binnen zwei Stunden auflösen, die briefmarkengroßen
Zelluloseschnipsel innerhalb weniger Minuten - und in Kontakt mit
Körperflüssigkeit sollen rote Flecken am Bettlaken übrig bleiben. So
soll Jungfräulichkeit nachgewiesen werden.
Betroffene werden geächtet und verstoßen
Was vielleicht bizarr anmutet, ist in vielen Kulturen verbreitet. So
ist beispielsweise in Indien Sex vor der Ehe traditionell verpönt,
manche Familien inspizieren deshalb nach der Hochzeitsnacht Laken.
Frauen, die keine Jungfrauen sind, gelten als sittenlos - ein
Ehrverlust für sie und ihre Familie. Besteht der Verdacht, dass sie
keine Jungfrau mehr sind, werden Familien der Bräute in einigen
konservativen Gemeinschaften geächtet und die Betroffenen verstoßen.
So wundert es nicht, dass Indien dem Geschäftsführer zufolge einer
der größten Absatzmärkte für die Produkte der Marke «VirginiaCare
»
ist. Geliefert werde aber im Grunde weltweit, auch in andere Teile
Asiens und den arabischen Raum etwa.
Immer wieder kontroverse Diskussionen in Workshops
Auch in Deutschland ist Jungfräulichkeit immer wieder Thema, wie
Beratungsstellen deutlich machen. Gianna Gentili vom Stuttgarter
Mädchen*gesundheitsladen etwa berichtet, dass die Nachfrage in
Workshops sehr hoch sei. «Es kommt immer wieder zu kontroversen
Diskussionen.» Valentina Sbahi vom Familienplanungszentrum Balance in
Berlin sagt, zu ihr kämen auch Mädchen und Frauen aus anderen
Bundesländern. «50 bis 60 Prozent meiner Klienten sind in Deutschland
geboren. Sie sind hier zur Schule gegangen.»
Selbstbewusste Frauen würden vor der Hochzeit von kulturellen Werten
eingeholt, hat auch Jutta Pliefke von Pro Familia festgestellt.
Musliminnen kämen zur Beratung, ebenso Frauen aus streng katholischen
Familien. «Das ist ein Dauerthema bei uns.» Manche Bedrohung sei sehr
konkret. Die Gynäkologin klärt über die weibliche Anatomie auf und
über Möglichkeiten.
Immer wieder nachgefragt werden Hymen-Rekonstruktionen, bei denen
Jungfernhäutchen (Hymen) wiederhergestellt werden sollen. Diese
Operationen seien verglichen mit den Blutkapseln gefährlicher und mit
Preisen im vierstelligen Bereich teuer, sagt Sbahi. «Und man hat
keine Garantie, dass es dann auch blutet.» Daher finde sie
Kunstblut-Produkte besser.
Terre des Femmes: Notsituation nicht ausnutzen
Rund 130 Euro kostet das «VirginaCare»-Komplettpaket regulär.
Kundinnen können es online bestellen oder auch in der Apotheke. Es
enthält unter anderem je zwei Blutkapseln und «künstliche
Jungfernhäutchen». «Dann können die Frauen beides vorher
ausprobieren», sagt der Geschäftsführer. Auch einzeln werden Produkte
verkauft. Absatzzahlen nennt der Mann nicht. Nur so viel: Die
Nachfrage sei zuletzt um 10 bis 20 Prozent pro Jahr gestiegen.
Das können nur Notlösungen sein, sagt Lena Henke, Referentin für
sexuelle und reproduktive Rechte bei der Organisation Terre des
Femmes. Werkzeuge der Selbstbestimmung seien es jedenfalls nicht.
Kritik äußert sie vor allem an manchem Werbeslogan: «Mit Aussagen wie
«Du hast dein Hymen beschädigt» nutzt das Unternehmen die Angst der
Betroffenen aus und reproduziert Irrglauben. Sie tragen dazu bei,
dass der gefährliche Mythos vom Jungfernhäutchen und das Konzept
Jungfräulichkeit sich weiter hartnäckig halten.» Die Notsituation der
Frauen dürfe nicht für kommerzielle Interessen ausgenutzt werden.
Aufklären über «Mythos Jungfernhäutchen»
Die Frauenrechtsorganisation hat jüngst eine Aufklärungsbroschüre «
Es
gibt kein Jungfern-Häutchen: Informationen zum Hymen» veröffentlicht.
Wie ähnliche Kampagnen zum «Mythos Jungfernhäutchen» räumt diese
mit
grundlegenden Missverständnissen auf: «Das Hymen hat nichts mit
Jungfrau sein zu tun.» Es gebe kein Stück Haut, das die Vagina
verschließe und reiße, wenn ein Penis eindringt. Das Hymen sei eine
Art Haut-Kranz, könne unterschiedlich aussehen, manche Frauen hätten
gar keines. Und: Nicht immer blute es beim ersten Sex.
Themen, die auch Gynäkologin Pliefke immer wieder bespricht - und
dabei schon mal einen Spiegel zur Hilfe nimmt, damit die Mädchen und
Frauen sich selbst einen Eindruck verschaffen können. «Die
anatomischen Fakten sind oft nicht klar.»
«Patriarchat hat keine Herkunft»
Einfache Aufklärung im Biologieunterricht reiche nicht aus, das hat
auch Milena Aboyan festgestellt. Die Regisseurin hat mit «Elaha»
einen Film genau zu dem Thema gemacht, der für den Deutschen
Filmpreis nominiert war. Sie habe vorher mit der deutsch-kurdischen
Gemeinde gesprochen. «Wir waren der Meinung, dass es Zeit ist,
darüber zu reden.»
Nun zeige sie den Film unter anderem in Schulen und erhalte viel
positives Feedback, sagt Aboyan. Aus ihrer Sicht ist das Thema
Jungfräulichkeit aber nur ein spezifisches Problem. «Das Patriarchat
in der Gesellschaft ist allgemein ein Problem.» Es gehe darum, dass
Frauen und weibliche Körper sexualisiert werden. «Wir müssen die
Narrative ändern.»
Das sei nicht nur Aufgabe der Frauen, betont Aboyan. Und es sei auch
nicht nur ein Thema von Migrantinnen und Migranten. «Patriarchat hat
keine Herkunft.» Vergewaltigung in der Ehe sei bis 1997 in
Deutschland kein Verbrechen gewesen. Auch Pliefke warnt davor, auf
andere zu zeigen: «Es nicht so lange her, da waren wir in Deutschland
auch schamhaft.» Die Idee, eine Braut müsse Jungfrau sein, sei noch
in den 1950ern weit verbreitet gewesen.
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