Mit 66 ist noch lange nicht Schluss: Was heißt heute alt? Von Ulrike von Leszczynski, dpa

Die jungen Alten fahren E-Bike und stählen sich im Fitnessstudio: In
Deutschland werden immer mehr Menschen weit über 70. Ist das ein
Gewinn oder eine Bedrohung - und reden wir genug darüber?

Berlin (dpa) - Ein Stütz am Barren? Für Johanna Quaas ist das mit 98
Jahren kein Ding der Unmöglichkeit. Wettkämpfe hat die «Turn-Oma» a
us
Sachsen-Anhalt erst vor wenigen Jahren aus ihrem Kalender gestrichen.
Doch noch immer macht sie jeden Tag Gymnastik. «Hannchen», wie ihre
Freunde sie nennen, stand schon vor rund zehn Jahren als älteste
Turnerin der Welt im Guinness-Buch der Rekorde, privat ist sie lange
Urgroßmutter.

Zum Tag der älteren Menschen am 1. Oktober stellen sich Fragen: Sind
hochbetagte fitte Senioren und Vier-Generationen-Familien bald völlig
normal? Und was heißt heute alt?

Hundertjährige würden eine ganze Stadt füllen 

Die deutsche Statistik ist gern präzise: Genau 26.615 Menschen waren
nach der amtlichen Zählung Ende 2023 hierzulande 100 Jahre und älter.
Von der Zahl her entspricht das einer mittelgroßen Stadt. Musiker
stehen mit über 80 auf der Bühne, Bestseller feiern das hohe Alter.
Paare begehen diamantene Hochzeit und sehen ihre Urenkel erwachsen
werden. Andere erleben, wie ihre Kinder im Seniorenalter vor ihnen
sterben.

Es sind Generationen, die auch politisch etwas entscheiden können.
Mehr als jeder fünfte Wahlberechtigte in Deutschland ist über 70. All
das zusammen genommen, lässt sich da sagen: So etwas gab es bisher
nicht? 

«Historisch ist das eine neue Situation und Dimension», bestätigt
Adelheid Kuhlmey, Alterforscherin an der Berliner Charité. «Es
verschiebt sich sehr viel. Die mittlere Generation rutscht in eine
neue Sandwich-Position - zwischen ihre meist schon erwachsenen Kinder
und ihre Eltern.» Das könne ein Gewinn sein, ergänzt die
Medizinsoziologin. «Weil die Vergangenheit in Familien präsenter
bleibt und wir damit einen viel größeren Erfahrungsschatz unter uns
haben.» 

Demografie heißt jetzt: Pilz statt Pyramide

Die Veränderung von der demografischen Pyramide zum Pilz - mehr
Ältere oben, deutlich weniger Jüngere unten - kann aber auch wie eine
Bedrohung wirken. Die Zahl der Menschen über 70 ist in Deutschland
zwischen 1990 und 2022 von 8 auf 14 Millionen angewachsen. 

«Für die pflegerische Versorgung laufen wir auf eine Katastrophe zu»,

prognostiziert Kuhlmey. Zumindest, wenn sich nicht grundlegend etwas
ändere, angefangen beim öffentlichen Bewusstsein: «Wir sind zu wenig

trainiert, die nachberufliche Phase zu gestalten. Dabei ist sie zu
einer der längsten in unserem Leben geworden.» Restlaufzeit sagen
manche dazu, als sei der Mensch ein Atomkraftwerk.

Noch vor 150 Jahren lag die Lebenserwartung in Deutschland im Schnitt
bei 35 bis 38 Jahren. Es folgten zwei Weltkriege. Dennoch gab es
laufend Fortschritt in der medizinischen Versorgung, bei der
Ernährung und beim Wohnen, dazu gesündere Arbeitsbedingungen und
wachsenden Wohlstand. Im Jahr 2070, so eine Prognose, könnte die
durchschnittliche Lebenserwartung von Babys sogar auf 86 bis 90 Jahre
steigen. 

16 gute Jahre als Geschenk

«Mit 66 ist noch lange nicht Schluss», sang Udo Jürgens schon Mitte
der 1970er Jahre. Der Liedermacher selbst wurde 80. Daten des
Deutschen Alterssurveys bestätigten jüngst seinen Ohrwurm: 65-jährige

Männer und Frauen können heute im Schnitt noch 16 bis 17 Jahre ohne
nennenswerte gesundheitliche Beeinträchtigungen leben. Viele
Mediziner sind sich einig, dass 70 das neue 65 ist.

Doch die Schere zwischen dem unverrückbaren kalendarischen und dem
gefühlt oft jüngeren biologischen Alter schließt sich wieder. Der
menschliche Körper ist nicht auf ein Dasein 90 plus ausgelegt. Bei
allem Training vom E-Bike bis Rollator-Yoga - Fitness-Garantien gibt
es nicht. Dafür Krankheiten, die erst im höheren Alter auftreten. Die
Gefürchtetste heißt Demenz.

Turnerin Johanna Quaas wird im November 99. Die Lebensphilosophie der
ehemaligen Sportlehrerin aus Halle an der Saale, die erst mit 56 ihre
eigene Wettkampf-Karriere startete, lautet: immer aktiv sein. «Das
hat mir geholfen», sagt sie.

Auch beim Oberschenkelhalsbruch vor drei Jahren. «Da konnte ich
natürlich nicht trainieren. Aber nach der Reha bin ich wieder in die
Turnhalle gegangen.» Das brachte sie zurück in den Alltag «und dazu,

sogar wieder Rad zu fahren!». Klar, auch sie plagten Zipperlein.
«Arthrose im Knie und in den Fingern, aber erträglicher wird es
nicht, wenn man sich schont.» Kleines Zugeständnis an ihr Alter: kein
Barren mehr mit 99. Versprochen. 

Ab 85 geht es oft abwärts

Ist Johanna Quaas die Zukunft? Altersforscherin Kuhlmey schüttelt den
Kopf. «Das ist eine absolute Ausnahme mit supergenetischen Anlagen»,
urteilt sie. Mit 85 beginne im Schnitt die Phase der Hochaltrigkeit
mit Gesundheitseinbußen, körperlich wie geistig. «Das kann weiterhin

ein erfüllendes Leben sein, aber es ist nicht mehr das Leben mit
70.» 

Dass Alter so schwer fassbar ist, macht die Sache kompliziert -
politisch, ökonomisch und persönlich. Bereits unter 70-Jährigen gibt

es Menschen, die biologisch zehn Jahre älter sind. Andere sind nach
diesem Maßstab zehn Jahre jünger. «Diese breite Spanne von 20 Jahren

haben wir in keiner anderen Generation», sagt die Charité-Forscherin.

Das mache es auch so schwer, das Rentenalter festzusetzen: «Am besten
wäre es, wenn wir individuell nach Leistungsfähigkeit in Pension oder
Rente gingen.» Kuhlmey wird bald 69 und hat nun eine
Senior-Professur. Warum, fragt sie, soll Wissen ab Mitte 60
automatisch verloren gehen? Muss da nicht viel mehr gehen mit Blick
auf den demografischen Pilz? Auch auf das Thema Migration könnte dann
ein anderes Licht fallen. 

Boomer müssen anders vorsorgen

Kuhlmeys Hoffnung ruht auf dem Einfallsreichtum der Baby-Boomer, in
Deutschland geboren von Mitte der 1950er bis Ende der 1960er Jahre.
Diese Generation hat eine Vorstellung davon, was Altern heißt. Kaum
jemand, der nicht ein eigenes Management für die Eltern aufsetzt, vom
Arzttermin bis zum Pflegedienst.

Wissenschaftlerin Kuhlmey sieht noch etwas anderes: «Das ist auch
historisch das erste Mal, dass eine Generation als große Gruppe
lernt: So geht es nicht. Das will ich meinen Kindern nicht zumuten.» 

Die Boomer, hofft sie, sorgen nach dieser Erfahrung anders für sich
vor. Mehr Alters-WGs mit Freunden vielleicht, oder sie bauen das
Mehrgenerationenwohnen aus. Auch die Digitalisierung mag ihnen im
Alltag helfen. Dazu haben viele Boomer Geld und sind belesen, in kaum
einer Generation vorher gab es so viele Bildungsaufsteiger. Aber sie
bleiben viele. Und das Pflegesystem knirscht jetzt schon. 

Zu wenig Debatten über die letzten Dinge

«Wir gehen an das Thema Altern noch immer zu blauäugig ran», fasst es

Forscherin Kuhlmey zusammen. Es gebe zu wenige hinterlegte
Patientenverfügungen und viel zu wenig öffentlichen Austausch über
die letzten Dinge des Lebens. Was soll Medizin im Alter 85 plus
leisten und was nicht mehr? Was kann sie vielleicht in Zukunft gar
nicht mehr - mit Blick auf Budgets und Betagte? Müsste das
Gesundheitssystem nicht jetzt schon viel mehr ins Gesundbleiben
investieren, statt erst bei Krankheiten anzufangen? 

Die Forschung weiß, dass soziale und gesellschaftliche Teilhabe das
Wichtigste bleibt in einem langen Leben. Doch gibt es sie für
Hundertjährige? «Wir verdrängen das Hochalter immer noch zu sehr»,

resümiert die Charité-Forscherin. Es fehle an Debatten, an
gesellschaftlichem Konsens bis hin zum Thema Sterbehilfe. Das ist
Arbeit und es kann schmerzhaft sein. «Man bekommt im Leben aber
nichts, ohne einen Preis dafür zu zahlen», sagt Adelheid Kuhlmey. 

 

 

 

Online-Wechsel: In drei Minuten in die TK

Online wechseln: Sie möchten auf dem schnellsten Weg und in einem Schritt der Techniker Krankenkasse beitreten? Dann nutzen Sie den Online-Beitrittsantrag der TK. Arbeitnehmer, Studenten und Selbstständige, erhalten direkt online eine vorläufige Versicherungsbescheinigung. Die TK kündigt Ihre alte Krankenkasse.

Jetzt der TK beitreten





Zur Startseite