Selbstverletzungen - welche Rolle spielt das Internet? Von Irena Güttel, dpa
Narben, die eine Geschichte erzählen: Manche Menschen schneiden sich
absichtlich in die Haut oder verbrühen sich. Seit Corona sehen
Experten einen Anstieg - und vermuten den Grund dafür im Internet.
Nürnberg (dpa) - Lange Zeit hat sich Melanie Weymer nicht getraut,
ihre Arme in der Öffentlichkeit zu zeigen. Selbst an heißen Tagen
versteckte sie diese unter langer Kleidung. Dieser Sommer war der
erste seit vielen Jahren, in dem sie im T-Shirt zur Arbeit gegangen
ist oder in ihrer Freizeit Tops getragen hat. Dass Leute sie wegen
der vielen Narben anstarren, kann sie inzwischen aushalten. «Ich wäre
nur dankbar, wenn sie mich fragen würden, was da passiert ist.»
Die Arme der 31-Jährigen sind bedeckt von Narben. Sie alle zeugen von
tiefen Schnitten mit Rasierklingen, die sich Weymer selbst zugefügt
hat. Die junge Frau aus Nürnberg hat eine
Borderline-Persönlichkeitsstörung - eine psychische Erkrankung, bei
der Betroffene unter starken Gefühls- und Stimmungsschwankungen
leiden. Viele Betroffene verletzen sich selbst, um die innere
Anspannung zu verringern. «Ich konnte nicht anders», sagt Weymer
rückblickend. Doch danach habe sie sich immer über sich selbst
geärgert und unter Selbstvorwürfen gelitten.
Anstieg seit der Corona-Pandemie
Nichtsuizidales selbstverletzendes Verhalten (NSSV) nennen Fachleute
es, wenn sich Menschen absichtlich verletzen. Manche tun das einmal,
manche immer wieder. Nicht immer steht eine Borderline-Störung
dahinter. «Selbstverletzung ist primär Ausdruck von starkem
emotionalem Leid oder Druck - und das kann natürlich im Rahmen fast
jeder psychischen Erkrankung entstehen», erläutert Michael Kaess,
Direktor der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und
Psychotherapie in Bern. Zum Beispiel auch bei Depressionen oder
Schizophrenie.
Betroffen seien vor allem Jugendliche, sagt Kaess. Aktuelle Zahlen
liefert eine im August im Fachjournal «European Child & Adolescent
Psychiatry» veröffentlichte Untersuchung unter rund 9500 Schülerinnen
und Schülern in Deutschland, an der Kaess beteiligt war. Darin gaben
fast 18 Prozent an, bereits Erfahrungen mit Selbstverletzungen
gemacht zu haben.
Seit der Corona-Pandemie sei eine Zunahme zu beobachten, sagt Kaess.
«Ein möglicher Treiber sind die sozialen Netzwerke.» Wer öfter
Inhalte zu Themen wie Traurigkeit oder Krise anklicke, bekomme immer
mehr davon angeboten und gelange dann auch zu Inhalten, die sich mit
Selbstverletzungen und Suizid beschäftigten.
Im Internet wird Selbstverletzung zu einer Art Wettbewerb
Dass man im Internet schnell in einen Strudel negativer Emotionen
geraten kann, hat auch Melanie Weymer erlebt. Zum Teil brüsteten sich
Leute damit, dass sie wieder im Krankenhaus seien oder wie tief die
Verletzung sei - und bekämen dafür Aufmerksamkeit, sagt sie. «Da
entsteht eine Art Wettbewerb - so wie bei einer Challenge.»
Der Psychotherapeut Sascha Zuleger vom Klinikum Nürnberg hat auch von
anderen Patientinnen und Patienten gehört, dass diese ähnliche
Erfahrungen im Internet gemacht haben. Manche Menschen könnte das zum
Nachahmen animieren, befürchtet er. «Also die Idee, sich selbst zu
verletzen, ist nicht mehr so weit hergeholt heutzutage wie vielleicht
noch vor 20 Jahren. Zu dem Thema gibt es Blogs, Homepages und Foren,
darüber wird geschrieben, gesprochen, gesungen und es werden Filme
gemacht.»
Auf der anderen Seite kann das Internet aus Zulegers Sicht auch einen
positiven Effekt haben, weil Betroffene dort Hilfe finden könnten und
merkten, dass sie nicht alleine seien. «Das denken tatsächlich einige
- und wenn die dann auf unsere Station kommen, sind sie überrascht,
wie viele dieses Problem haben.»
Auch Melanie Weymer ging es so vor ihrer Therapie: «Der Kontakt zu
den Mitpatienten war für mich sehr wichtig. Sonst war ich immer die
Seltsame. Jetzt war endlich jemand da, dem es ähnlich ging.» Doch bis
dahin sei es ein langer Prozess gewesen, erzählt Weymer. Jahrelang
habe sie ihre Probleme verheimlicht. Als zwei Freunde sie schließlich
in die Notaufnahme fahren mussten, habe sie realisiert, dass es so
nicht weitergehe, sagt sie.
Dass viele Betroffene aus Scham oder anderen Gründen keine Hilfe
suchen, zeigt auch die Untersuchung unter den deutschen Schülerinnen
und Schülern. Von denen mit psychischen Problemen hätten gerade mal
25 Prozent professionelle Hilfe in Anspruch genommen, erläutert
Kaess. Fachleute wie er sehen das mit Sorge. «Wir wissen, dass
selbstverletzende Jugendliche häufig auch Suizidgedanken haben und
dann im Verlauf irgendwann auch ein erhöhtes Risiko haben, einen
Suizidversuch zu begehen», sagt er.
Die Narben zu akzeptieren, gehört auch zum Heilungsprozess
Forschende der Universitäten und Universitätsklinika in Heidelberg,
Karlsruhe, Landau/Koblenz, Mannheim, Neuruppin und Ulm haben deshalb
ein Online-Programm entwickelt, das Jugendlichen und jungen
Erwachsenen schnelle und flexible Hilfe bieten soll. 700 Betroffene
haben sich daran beteiligt. Ob das Programm ihnen helfen konnte,
müssen die Forschenden nun auswerten. Die Daten dazu könnten Anfang
2025 vorliegen, sagt Kaess, der das Projekt koordiniert.
Melanie Weymer hat seit fast einem Jahr nicht mehr ihre Haut mit
Rasierklingen verletzt oder sich Verbrennungen an den Händen
zugefügt. Sie hat gelernt, besser mit ihren Gefühlen und der
Anspannung umzugehen. Sie spielt mit ihren Katzen, macht Yoga und
liest viel zur Ablenkung. «Ganz weg wird es nie sein», gibt sie zu.
Die Narben an ihren Armen will sie deshalb nicht mehr verstecken.
«Diese gehören zu mir», sagt sie. Das zu akzeptieren, sei auch Teil
des Heilungsprozesses.
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