Frühstart ins Leben Von Sandra Trauner und Boris Roessler , dpa
Schon mit einem Geburtsgewicht von ein paar Hundert Gramm können
Frühchen heute überleben. Einfach ist das nicht. Am 17. November ist
Welt-Frühgeborenen-Tag.
Frankfurt/Main (dpa) - Emil hat es geschafft. Er lebt. Bei seiner
Geburt in der 25. Schwangerschaftswoche wog er 730 Gramm -
normalerweise dauert eine Schwangerschaft etwa 40 Wochen, und
durchschnittlich sind Neugeborene rund 3500 Gramm schwer.
Nach acht Wochen konnte das Frühchen die Intensivstation verlassen.
Inzwischen ist Emil elf Wochen alt und bringt mehr als zwei Kilo auf
die Waage, wie ein handbemalter Luftballon an seinem Bettchen
verkündet. Er kann inzwischen fast alles alleine, was Neugeborene
können sollten, nur beim Atmen bekommt er noch eine kleine
Unterstützung.
«Achterbahnfahrt» für die Eltern
Die Eltern von Emil erlebten die Zeit nach der Geburt als
«Achterbahnfahrt», wie Vater Patrick Wiese berichtet. «Man atmet nie
durch», sagt auch Mutter Selina. Die beiden sind Anfang 30 und Emil
ist ihr erstes Kind. Seit Wochen ist das Frankfurter Bürgerhospital
ihre zweite Heimat. «Das ist die beste Medizin: Dass die Eltern da
sind», sagt Oberarzt Christoph Zweyrohn.
Die Klinik im Frankfurter Nordend ist mit rund 4.000 Geburten
jährlich nicht nur das geburtenstärkste Krankenhaus Deutschlands,
sondern mit jährlich rund 100 Neugeborenen unter 1.500 Gramm auch
eine der führenden Kliniken für Extremfrühgeborene in Hessen. Am 17.
November stehen diese Kinder besonders im Fokus: dann ist
Welt-Frühgeborenen-Tag.
Risiko Mehrlingsschwangerschaft
64.500 Babys kommen in Deutschland jährlich zu früh auf die Welt,
also vor der 37. Schwangerschaftswoche, wie der Bundesverband «Das
frühgeborene Kind» berichtet. 10.000 dieser Kinder wiegen anfangs
weniger als 1.500 Gramm. Bei Mehrlingsschwangerschaften sind
Frühgeburten besonders häufig.
Die Überlebenschancen extremer Frühchen sind in den vergangenen
Jahrzehnten stark gestiegen - aber oft zahlen sie einen Preis im
späteren Leben. Eine Studie im Fachjournal «Pediatrics» analysierte
kürzlich die Daten von 23.000 extremen Frühchen in den USA. Sie
zeigen: Je früher das Kind geboren wird, desto geringer die
Überlebenschancen und desto häufiger gibt es Komplikationen.
Je früher, desto mehr Komplikationen
Nur jedes vierte Kind, das in der 22. Schwangerschaftswoche auf die
Welt kam, überlebte, während es 82 Prozent der Kinder waren, die in
der 25. Woche geboren wurden. Gerade einmal 6,3 Prozent der Kinder
aus der 22. Woche blieb von schweren Komplikationen verschont. Bei
den Kindern aus der 25. Woche lag dieser Anteil bei 43,2 Prozent.
Während Emil schon auf die Nachsorgestation N4 umziehen durfte,
liegen die Zwillinge einer anderen Familie noch auf der
Intensivstation O4. Sie wurden mit je knapp 1.000 Gramm in der 31.
Schwangerschaftswoche geboren. Sechs Tage später ist ihr Zustand
weitgehend stabil - dank einigem an Technik.
Frühchen brauchen es warm
Ein Monitor zeigt Herzfrequenz, Atemrhythmus und die
Sauerstoffsättigung im Blut. Das kleinere der beiden winzigen Babys
wird mit Schläuchen beatmet und ernährt. Wegen Gelbsucht liegt es
unter einer Blaulichtlampe.
Vor allem die Körpertemperatur wird genau überwacht. «Unser größt
er
Feind ist das Auskühlen», sagt Oberarzt Zweyrohn. Wärmestrahler,
Mützchen und wenn nötig Plastikfolie halten das Neugeborene warm. Die
häufigste Komplikation bei Frühchen ist, «dass sie aufhören zu atme
n,
um Energie zu sparen», sagt Zweyrohn.
Koffein hilft beim Atmen
Die Atmung ist der kritische Punkt. Wenn sich eine Frühgeburt
abzeichnet, bekommen Frauen noch während der Schwangerschaft eine
Kortison-Spritze, die die Lungenreife des Babys beschleunigt. Nach
der Geburt wird frühen Frühchen über die Luftröhre eine Art Schmier
e
verabreicht, die aus Tierlungen gewonnen wird und die die Lunge des
Babys öffnet.
Die Lungenreifespritze sei in den 1990er Jahren «der Gamechanger» in
der Frühchenbehandlung gewesen, sagt Oberarzt Zweyrohn, die Schmiere
wiederum wirke «wie ein Lichtschalter». Ein weiterer Baustein zur
Unterstützung der Atmung ist: Koffein.
Auf der großen Versorgungsrunde
Neben der Atmung ist die Nahrungsaufnahme ein kritischer Punkt.
Frühchen haben enormen Kalorienbedarf und brauchen Glukose,
Aminosäuren und Fette, damit sie zunehmen. Der stabilere der
Zwillingsbrüder wird mit einer Spritze über eine Magensonde
gefüttert, der andere bekommt die Nahrung intravenös.
Fachkinderkrankenschwester Laura Waider kommt auf ihrer
Versorgungsrunde bei den Zwillingen vorbei. Sanft berührt sie die
kleinen Köpfchen, hält die winzigen Füßchen und Händchen. Sie
wechselt die Windel, die Atemmaske und den Sauerstoff-Sensor am Fuß.
Alle sechs Stunden steht die große Versorgungsrunde an. Alle zwei
oder drei Stunden - je nachdem, wie oft das Kind Nahrung braucht -
wird gefüttert.
Krankenschwester Waider freut sich: keine schlechten Nachrichten
heute. «Es gibt Frühchen, die nehmen alles an Komplikationen mit und
andere rauschen einfach so durch», sagt die 26-Jährige. Neben der
Schwangerschaftswoche ist auch das Geburtsgewicht entscheidend für
die Prognose. Schon mit 400 Gramm haben Kinder heute eine Chance zu
überleben. Aber: «Nur weil ein Kind durchkommt, heißt das nicht, dass
dann alles gut ist.»
Schwierige Gespräche im «Graubereich»
Nach der 24. Woche sei es heute meist keine Frage mehr, ob man
versuche, das Leben des Kindes mit allen zur Verfügung stehenden
Mitteln zu retten, sagt Zweyrohn. Schwierig sei der «Graubereich»
zwischen der 22. und der 24. Woche. Ärzte und Eltern müssen dann
gemeinsam entscheiden, ob das Kind um jeden Preis gerettet werden
soll, oder ob man ihm im Sterben beisteht.
Ohne fachlichen Rat seien Eltern überfordert, sagt Zweyrohn. «Wir
versuchen, ein realistisches Bild zu zeichnen.» Die Eltern hören von
typischen Komplikationen wie Hirnblutung, Darmentzündung oder
Lungenproblemen, von möglichen bleibenden Schäden wie Lähmungen,
kognitiven Einschränkungen oder Essstörungen.
Hoher Preis
Extreme Frühchen können durchaus überleben - «aber zum Preis einer
hohen Komplikationsrate», sagt auch Christoph Bührer, Chef der
Neonatologie an der Berliner Charité. Je höher die Komplikationsrate,
desto häufiger auch Beeinträchtigungen im späteren Leben.
«Jedes Kind hat das prinzipielle Recht auf eine medizinische
Behandlung», ergänzt Mario Rüdiger, Neonatologe am
Universitätsklinikum Dresden. An der Grenze der Überlebensfähigkeit
könne diese Behandlung jedoch «mit einem kurativen oder auch
palliativen Ziel erfolgen».
22. Woche ist die «biologische Grenze»
Die Entwicklung, dass immer jüngere Frühchen gerettet werden können,
ist nach Einschätzung von Dominique Singer, Leiter der Neonatologie
am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, am Ende der Möglichkeiten
angekommen. Singer spricht von einer «biologischen Grenze der
Lebensfähigkeit».
Vor der 22. Schwangerschaftswoche sei kein Überleben möglich, weil
die Lunge anatomisch noch nicht ausreichend entwickelt sei. Wolle man
die Grenze weiter nach unten verschieben, ginge das nur mit einer
sogenannten künstlichen Plazenta, die die Rolle einer
Herz-Lungen-Maschine spielen würde.
Länger an der Nabelschnur
Im Bürgerhospital steht eine andere Neuerung kurz vor der Einführung.
Die sogenannte Versorgungseinheit, in die das Frühchen nach der
Geburt gelegt wird, kommt dann mit in den Kreißsaal. Das Neugeborene
und die Mutter bleiben über die Nabelschnur miteinander verbunden.
Wie lange Emil noch im Bürgerhospital bleiben muss, «das entscheidet
er selbst», sagt sein Vater. Die Daumenregel besagt, dass die
Frühchen meist bis zum ursprünglich errechneten Geburtstermin in der
Klinik bleiben. Wenn Emil das so schafft, könnten die Wieses
Weihnachten zu dritt zu Hause feiern.
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